Im Bad

Erzählung

 

 

 

 

 

 

[sie nannte das 'mein kleiner Horrorfilm']

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[er sah zum erstenmal eine behinderte Frau, die völlig nackt war]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[er kannte durch die häuslichen Besuche der Prostituierten so viele Verwicklungen, dass er das Lachen für den Urgrund der Liebe hielt]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[man wurde, immer noch nackt, in Tücher und Decken gehüllt. Gegen ein Aufgeld packten die Aufseher auch Liebespaare zusammen]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[alle Welt sagt, dass du ein Kind kriegst! Ist das wahr?]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[ob es normal ist? - Nun, an jeder Hand sechs Finger und an jedem Fuß sechs Zehen, eine leichte Überkompensation der Natur]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[Som ma et nit weg maache?]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[ein unförmiges, Schrecken erregendes Wesen, an beiden Enden des Körpers mit Köpfen bewehrt, mit überlangen Armen und Beinen]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Fritz hatte keine Beine, nicht einmal Stümpfe. Sein Rückgrat war verwachsen, und der Rollstuhl, in dem er zeitweise fuhr, hatte in der Rückenlehne eine fußballgroße Ausbuchtung. Fritz war Mitte Zwanzig, schon behindert zur Welt gekommen und rechnete noch mit fünf bis zehn Lebensjahren. Das Rückgrat verkrümmte immer mehr, eines Tages würde er sich selbst zerquetschen. Doch hatten ihn die Behinderungen weder dick noch lethargisch werden lassen, seinem Intellekt freilich jene aggressive und zynische Schärfe verliehen, die man bei Behinderten bekanntlich mehr fürchtet, als den Umgang mit einem fehlenden oder veränderten Körperteil.

Die Eltern waren durchsetzungsfreudig und wohlhabend. Sein Vater war Jurist, seine Mutter Ärztin. Fritz studierte Jura und Medizin und würde zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht einmal die Sozietät seines Vaters übernehmen. Ob er diesen Zeitpunkt erreichen würde, war nie ein Thema gewesen. Sein Leben war jedenfalls darauf ausgerichtet, dass er dieses Ziel erreichen konnte. Die Eltern hatten kein weiteres Kind haben wollen. Die Mutter träumte manchmal einen, wie sie sagte, furchtbaren Traum: in ihm wurden dem Baby die Knochen und das verkrümmte Rückgrat gebrochen, dann neu und gerade zusammengesetzt. Selbst die Beine wuchsen nach. Sie nannte das "meinen kleinen Horrorfilm" und erzählte jedem davon, den sie auch nur flüchtig kannte. Fritz hieß im übrigen so, weil seine Eltern ihm angesichts der Behinderungen etwas von der Disziplin des berüchtigten Preußenkönigs wünschten.

Jeden zweiten Mittwoch im Monat besuchte Fritz das Römisch-Irische Bad. Über die Jahre hatte es sich ergeben, dass an diesem Tag vor allem körperlich und geistig Behinderte aus Baden-Baden und der näheren Umgebung in das klassizistische Gebäude unterhalb des Neuen Schlosses kamen. Franziskus war der Älteste unter ihnen. Niemand wusste, ob er wirklich so hieß. Er war weltkriegsversehrt, doch ohne angemessene Rente für seine verlorenen Beine geblieben und erklärte diesen Umstand mit einem geheimen Zusatzprotokoll der Alliierten auf der Konferenz von Jalta im Februar '45, das allein ihm gegolten habe. Er erzählte das jedem, der ihm ein Geldstück in den Hut warf, erzählte es mit der großen Geste von Feldherren und der gewerbsmäßigen Sanftmut von Säufern. Dann aber zeigte er auf seinen klapprigen Rollstuhl und machte nur die Stadt und ihre Gesellschaft für sein Schicksal verantwortlich.

Franziskus bettelte seit zwanzig Jahren in Baden-Baden, und das hieß, er bettelte eigentlich nicht. Denn er hatte, wie auch einige andere Männer und Frauen, mit den großen Hotels eine Art Tarifvertrag, der jedes Jahr den Erfordernissen angepasst wurde. In ihm war festgelegt, dass sie dafür bezahlt wurden, in der Hochsaison nicht zu betteln, sich nicht in Sichtweite der Hotelauffahrten auf die Bürgersteige zu legen, und vor allem nicht im Umkreis von hundert Metern zu sterben. Wenn sie sich an diese Abmachung hielten, garantierte ihnen das jeweils nächstgelegene Hotel, für eine menschenwürdige Bestattung zu sorgen.

Die Bettler wussten, dass sie der Absprache auch über den Tod hinaus trauen konnten und schleppten sich, wenn es ans Sterben ging, über die weiße Linie, die um die Luxushotels gezogen war.

Franziskus und die meisten anderen Bettler und Säufer in der Stadt waren stets gut gekleidet: für sie wurden alte Uniformen der Portiers und Pagen zugeschnitten. Als offizieller Sprecher der Bettler und Säufer wurde er zum Neujahrsempfang des Oberbürgermeisters geladen und verbrachte einem im Monat einen Tag in der Kurabteilung des Parkhotels. Man schnitt ihm Haare und Barbarossabart, manikürte die Nägel und pflegte den hornhäutigen Körper. Dann nahm er zusammen mit anderen Benachteiligten der Gesellschaft im Speiseraum des Personals eine Mahlzeit ein. Wenn Franziskus danach aus dem Hotel rollte, gewaschen und gepflegt, satt und in gereinigten Kleidern, musste selbst er zugeben, was ihm nun jeder auf den ersten Blick bescheinigte: wieder ein Mensch zu sein!

Es war vorgekommen, dass er als solcher von einem eintreffenden Gast für einen Pagen gehalten wurde und sein Rollstuhl für eine Art Gepäckkarre: So hatte ein junger Manager, der schwungvoll bis unter den Baldachin des Entrees vorgefahren war, einmal mit souveräner Geste zwei große Vuittontaschen aus dem Kofferraum seines Sportwagens gezogen und dem gerade vorbeirollenden Franziskus in den Schoß fallen lassen.

Unter den Bettlern gab es nur wenige Frauen. Unter ihnen war Tini. Sie lebte, soweit man davon sprechen konnte, mit Franziskus zusammen, jedenfalls fühle er sich für sie verantwortlich, und ihr war es egal. Sie war Ende Vierzig, debil und durch die langen Jahre ihrer Existenz als Prostituierte am Güterbahnhof so vom Rheuma durchwühlt, dass sie sich kaum noch bewegen konnte und im Tran starker Schmerzmittel vor dem Bahnhofsklo oder einem der Striptease-Lokale der Stadt Pariser verkaufte - bis irgendwann überall Automaten aufgestellt wurden und sie vollends zum Sozialfall absank. Auch sie kam jeden zweiten Mittwoch im Monat ins Römisch-Irische Bad.

Die Bäder- und Kurverwaltung hatte ursprünglich der Geschäftsentwicklung an diesen Mittwochnachmittagen sorgenvoll zugesehen, sie schließlich stillschweigend toleriert und sich beim Eintrittsgeld mit einem symbolischen Betrag begnügt. Es schien immer noch besser, die Behinderten und Säufer an einem Tag zusammenzufassen, als sie an mehreren Tagen unter den anspruchsvollen Badegästen der Stadt zu haben. Am Donnerstag wurde dann etwas später geöffnet, zuvor wurden ein Wasserwechsel und die monatliche Generalreinigung vorgenommen.

Fritz tat das Römisch-Irische Bad einfach gut: der heiße Dampf, das Thermalwasser, die Seifenmassage und vor allem die Nacktheit, die vorgeschrieben war. Als er zum erstenmal von seinem Pfleger vor der Umkleidekabine abgesetzt wurde, sich auszog und zur Dusche tragen ließ, war es auch das erste Mal in seinem Leben, dass er seinen Körper einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit nackt zeigte.

Fritz hatte ein ebenmäßiges, leidlich hübsches Gesicht, einen auffallend dicken Hals, dessen Muskelstränge vorstanden, und sehr lange Arme, die gleich an einen Riesenaffen denken ließen. Dabei waren die Arme etwas an ihm, was zwar auf eine anrührende Weise komisch wirkte, zugleich aber dem Schrecken erregenden Körper ein Gleichgewicht, ja eine für den Betrachter fast vertraut wirkende Anmut verlieh.
Einer der Badeaufseher wollte ihm behilflich sein, ins Wasser zu gleiten, und fragte behutsam: "Kann ich helfen?"
Fritz antwortete: "Erst wenn Sie sicher sind, dass ich tot bin!"
Schon beim zweiten Besuch brachte er ein schmales Kinder-Skateboard mit, auf dem er von Raum zu Raum rollte. Fritz umrundete gewöhnlich einige Male das große Thermalbecken und hielt sich dabei meist an der Überlaufrinne fest. Dann setzte er sich auf eine der Stufen, die in das Bassin führten, gerade so, dass sein Kopf eben noch aus dem Wasser schaute. In dieser Stellung sah er zum erstenmal eine behinderte Frau, die völlig nackt war.
Es war Mila.

So oft Fritz es wünschte, hatten seine Eltern für ihn eine Prostituierte nach Hause bestellt. Denn sie waren der Meinung, dass die Liebe - auch die körperliche Liebe - zum Leben gehörte und durch eine Behinderung nicht mehr als notwendig eingeschränkt werden durfte. Zwar endeten Fritz' Versuche und Versuchungen zumeist enttäuschend für ihn, aber nach einiger Zeit bat er dennoch um einen neuen Termin. Bei den Prostituierten war er beliebt, weil die Eltern gut zahlten, Fritz höflich und zurückhaltend war und die Angelegenheit, durch die Notwendigkeit exakt ausgeklügelter und strikt einzuhaltender Bewegungsabläufe, etwas durchaus Unterhaltendes hatte - das Lachen schlug leicht in Erregung um, die manchmal auch die Frauen befiel.

Mila hingegen war wie er. Sie war einige Jahre älter, hatte keine Arme und war recht hübsch, doch gewiss ungewöhnlich proportioniert: die fehlenden Arme rundeten ihre Schultern, das Schwergewicht des Körpers lag auf dem breiten Becken und die kleinen Brüste erweckten den Eindruck, als lägen sie in einer Höhle. An sich war sie blond. Aber sie färbte sich das Haar überall in einem leuchtenden Rot, wie sie es einmal bei einem großen Käfer gesehen hatte.

Fritz entdeckte sie auf der anderen Seite des Beckens, kroch die Stufen hinauf zu seinem Skateboard und sauste zu ihr. Dabei jagte er mit dem herabhängenden Arm das Thermalwasser auf wie ein Hemingwayscher Fisch.

Mila hatte eine fundamentale Herzschwäche und nicht mehr lange zu leben, wusste aber nach Aussage der Ärzte nichts davon. Sie war beim dem Verstand einer Dreijährigen hängen geblieben (was nicht wenig war), und seit sie Vierzehn war, legte ihre Mutter zu dem guten Dutzend Tabletten, das ihr täglich gegeben wurde, weil ab und zu das eine oder andere ihrer inneren Organe versagte, eine unscheinbare weitere hinzu.

Ihr Vater war ein französischer Offizier, der, als er bald nach der Geburt der Tochter versetzt wurde, die Familie nicht mehr an den neuen Garnisonsort nachholte. Die Mutter schlug sich als Änderungsschneiderin durch und versorgte schließlich einem Pfarrer den Haushalt. Mila half ihr später dabei. Als feststand, dass sie wahrscheinlich nur noch ein Jahr hatte, erlaubte der Pfarrer, dass sie ins Römisch-Irische Bad ging. Bald zeigte sich, dass sie dort allein zurechtkam, und so setzten die beiden Mila an jenen Mittwochnachmittagen vor dem Eingang ab und gingen ins Kino oder zu einem Vortrag.

Waren Fritz' Arme und Hände besonders lang und kraftvoll, so zeigte Mila mit ihren Beinen und Füßen eine unglaubliche Geschicklichkeit. Sie trug auch im Winter offene Sandalen, aus denen sie jederzeit ohne fremde Hilfe schlüpfen konnte. Mit ihren Giraffenhalsbeinen und den biegsamen Füßen erledigte sie sodann jede nur denkbare Aufgabe. Am liebsten half sie in der Kirche: löschte nach der Messe die Altarkerzen, zählte das Geld im Klingelbeutel, indem sie von den verschiedenen Münzsorten Türmchen baute, und sammelte die Gebetbücher ein. Manchmal dürfte sie schon vor der Messe helfen. Dann fischte sie mit dem linken Fuß Hostien aus der Vorratskiste und legte sie mit dem rechten vorsichtig, damit nichts zerbrach, in den Kelch. Zum Schluss entkorkte sie, voller Vorfreude in Erwartung des dumpfen Knalls, den Messwein.

Fritz reichte ihr nur bis zum Bauch. Als er auf seinem Brett bei ihr ankam, sah er, dass ihre Haare von einem Rot waren, wie er es einmal in einer botanischen Sammlung bei einem Käfer entdeckt hatte. Mila schaute auf ihn herab. Fritz bedeutete ihr, dass er nicht würde aufschauen können, ohne von seinem Skateboard zu fallen. Sie verstand ihn nicht. Doch obwohl es keinen wirklichen Grund dafür gab - außer den, ihn kennen lernen zu wollen - bückte sie sich tief zu ihm hinab. Nun sah sie seine Augen und auf gleicher Höhe eine Behinderung, die er in ihrer Gegenwart nicht mehr los wurde.

Schon wenn er an den Mittwochnachmittagen das Foyer des Römisch-Irischen Bades betrat, spürte er sie. Sie verließ ihn nicht bei den Duschgängen, die er nun kalt nahm, und nicht bei den Dampforgien, wenn er sich auf die oberen Steinstufen heben ließ, wo es am heißesten war. Nichts half. Seine Mutter, der er sich anvertraute, fügte der Unzahl seiner Indikationen eine neue hinzu. Doch der Allah ergebene türkische Masseur nahm bei der Seifenmassage auch diese mit großem Gleichmut zur Hand und massierte sie mit gleicher Akkuratesse wie den Buckel und die übrigen Körperteile, soweit sie eben vorhanden waren. Im übrigen war, weil den meisten Badegästen ein Drittel oder die Hälfte der Gliedmaßen fehlte, an diesen Tagen die Wartezeit vor einer Massage viel kürzer.


Mila sah die Behinderung, sagte aber nichts, denn sie konnte nicht sprechen. Das heißt, sie vermochte ein einziges Wort: vermochte "Ja!" zu sagen. Also sagte sie jetzt "Ja!" und bog ihr rechtes Giraffenhalsbein so weit nach innen, bis der große Zeh auf einen Anhänger zeigte, der zwischen ihren Brüsten endete. Fritz hielt mit einer Hand das Gleichgewicht, mit der anderen holte er den Anhänger bis unter seine Nase, las ihren Namen und ihre Adresse in der Cité, dem Stadtteil der französischen Garnison. Mila lachte unbekümmert und streifte mit der Fußsohle - fast, dass es wie eine kokette Geste aussah - einige Wassertropfen von der Stirn. Beim Lachen wurde eine Vielzahl Plomben sichtbar. Mila, die Süßes liebte, hatte erst spät gelernt, sich gründlich die Zähne zu putzen.

Dann freilich zeigte sie unvermittelt auf die Erektion. Fritz kam es nun so vor, als habe sich das Lachen darauf bezogen. Im ersten Moment reagierte er betroffen, doch kannte er durch die häuslichen Besuche der Prostituierten so viele Verwicklungen, dass er das Lachen für den Urgrund der Liebe hielt, zu dem einfach jede leidenschaftliche Umarmung hinführen musste, wenn sie ihren Namen verdiente.

Also lachte er, lachte laut und fröhlich wie ein Dreijähriger, mit dem Gran an Bitterkeit, das immer in ihm war.

Sie wurden ein Paar. Niemand hieß es gut, aber da beide behindert waren, äußerte auch niemand einen Vorbehalt. Wenn man sie beisammen sah, lächelte man vielmehr mild, wie über Kinder und ihre Sandkastenliebe. Fritz und Mila schwammen gern zusammen im großen Thermalbecken und liebten es, im Wasserdampf auszuruhen, nebeneinander sitzend, an den fast heißen Stein gelehnt. Ihr Fuß berührte seine Hand. In den Gesichtern jene weglose Verlorenheit, zu der ganz ohne Zweifel schon Dreijährige fähig sind.

Miteinander zu schlafen erwies sich als schwierig. Sie waren niemals und stets allein gewesen, galten als hilflos, waren es auch in mancherlei Hinsicht. Zumeist hatte sich ein Pfleger oder ein Familienmitglied in ihrer Nähe aufgehalten - die körperliche Liebe war zugelassen und organisiert worden. So war Mila mit Vierzehn von einem Pfleger, der eine Gruppe von behinderten Jugendlichen in ein Feriencamp begleitete ... - nein, er hatte sie nicht vergewaltigt, also keine körperliche Gewalt angewandt, und er hatte sie auch nicht verführt, hatte also keine psychische Gewalt angewandt, er schlief einfach mit ihr, während sie eine Tafel Bitterschokolade aß, die er ihr zuvor wie zum Vorspiel gegeben hatte. Niemand bemerkte es.

Als ihre Mutter einige Monate später mit ihr zu ihrem Gynäkologen ging, weil Mila ihre erste Menstruation hatte, erklärte dieser, dass sie nicht mehr unberührt sei. Ihre Mutter ließ jene zusätzliche Tablette verschreiben und zeigte ihrer Tochter, wie sie sich mit Zehenspitzen und Fußballen selbst befriedigen konnte. Denn sie sagte sich: wenn Dreijährige eine Sexualität haben, sollen sie auch in der Lage sein, damit fertig zu werden.

Die Ruhephase nach dem anstrengenden römisch-irischen Dampfbad verbrachte man in einem kreisrunden Raum, der abgedunkelt war und vollgestellt mit Holzliegen. Man wurde, immer noch nackt, in Tücher und Decken gehüllt. Gegen ein Aufgeld packten die Aufseher auch Liebespaare zusammen: eine blinde Frau hatte einen blinden Mann gefunden, zwei querschnittsgelähmte Homosexuelle einen gangbaren Weg, eine strenggläubige Türkin, die stets mit dem Tschador in die Therme stieg, liebte einen orthodoxen Juden, der seit vielen Jahren in der Stadt zehn Männer suchte, mit denen er den Gottesdienst feiern konnte, und den man deshalb für geistesgestört hielt.

Es fanden sich Paare, die es eigentlich nicht geben durfte, und die Angelegenheit wurde von den Verantwortlichen in der Kurverwaltung der weltbekannten Badestadt als so schrecklich angesehen, dass man vor Grauen förmlich erstarrte. (Es sollte also recht lange dauern, bis ein Schwarzeneggerscher Säufer im Delirium tremens neu in der Stadt auftauchte und, ermutigt durch die Anschubkraft einer Flasche Jägermeister, mit einer Dreijährigen und einem Skateboardfahrer Streit suchte.)

Dort im Ruheraum herrschten die verwunschenen Lichtverhältnisse romanischer Kappellen. Die Atmosphäre war zugleich spannungsgeladen und hoch konzentriert. Nur manchmal schwirrte ein Seufzen bis unter die Kuppel. Ruhe war vorgeschrieben, doch weil ihr ein unterdrücktes Lachen zugrunde lag, war sie vollkommen heiter.

Als Fritz bemerkte hatte, wie alt Mila wirklich war, hatte er sich schon unsterblich in sie verliebt und nicht sein Jagdtrieb war erwacht, sondern seine Fürsorge. Trotzdem bat er den türkischen Masseur, auch ihn und Mila gemeinsam auf eine Liege zu betten. Doch erst als Mila ausdrücklich "Ja!" sagte, folgte dieser der Bitte. Der gottesfürchtige Muslim wickelte die Dreijährige am Fußende ein und den Mann mit seinem Skateboard am Kopfteil. Die beiden fanden bald heraus, dass es eine wunderbare Stellung war, um nicht zu ruhen, und wenn Fritz Mila etwas zuflüsterte über die Notwendigkeit, Bewegungsabläufe einzuhalten, lächelte sie so unbefangen, wie es nur in diesem Alter möglich ist, sagte leise: "Ja!" und hielt sich auch weiterhin nicht im Mindesten daran.

Nach dieser Ruhephase versammelten sich die Liebespaare im Salon, einem eleganten, großzügigen Raum im ersten Stock des Friedrichsbades, mit Sicht auf die Stadt. Einige Betreuer und Badewärter waren dabei, hielten sich aber zurück. Gewöhnlich hatte man zusammengelegt und ein kleines Büffet besorgen lassen. Man aß und trank, dachte über das Lachen nach, war traurig und zufrieden, vergewisserte sich melancholisch des Lebens, das sich verflüchtigte, und nach und nach erinnerte man sich auch der fehlenden oder deformierten Körperteile. Dann war es Zeit aufzubrechen.

Bei der Menge an Tabletten, die Mila jeden Tag zu sich nahm, ließ sich nicht ausschließen, dass eine darunter war, die die Wirkung einer anderen aufhob. Als Tini im Römisch-Irischen Bad bemerkte, dass Mila schwanger war, fragte sie, ob Mila das Kind wegmachen wolle.
Mila sagte: "Ja!"

Die ehemalige Prostituierte hatte etliche Abtreibungen hinter sich und bot an, den Abbruch gegen zwei Flaschen badischen Spätburgunder vorzunehmen. Mila sagte wieder" "Ja!", und Tini sammelte daraufhin Werkzeug ein, das ihr nützlich sein konnte: Hammer und Meissel, eine Rohrzange und ein Allzweckmesser schweizerischer Herkunft, mit Feile und Korkenzieher.

Die meisten Dinge stammten aus dem Obdachlosenasyl der Stadt. Der Diebstahl wurde bemerkt und Mila bei nächster Gelegenheit von ihrer Mutter in den Arm genommen: "Alle Welt sagt, dass du ein Kind kriegst! Ist das wahr? Aber seit wann kriegen Dreijährige ein Kind? Ich habe dir doch gezeigt, wie man es sehr schön selbst machen kann! Hat dir das nicht gereicht? Oder hat dich wieder irgend so ein Kerl zwischen gehabt?"

Mila liebte es, wenn ihre Mutter sie umarmte. Sie erwiderte also mit ihren Beinen die Umschlingung, lächelte nur innig und sagte nichts.

Die Mutter fand im Zuge ihrer weiteren Nachforschungen ihre Tochter und den jungen Mann im Dampfbad: die Köpfe aneinandergelehnt, die Augen geschlossen, den heißen Stein im Rücken. Sie sah Fritz' Behinderung und fragte ihn gleich, ob er der Vater des Kindes sei. Fritz zögerte keinen Augenblick und sagte im selben Augenblick wie Mila: "Ja!"

Milas Mutter setzte sich seufzend zu ihnen: "Wie soll das weitergehen? Mila ist erst Drei, und mit Drei kriegt man gewiss noch keine Kinder!"

Fritz antwortete nun wie ein preußischer Offizier, bei dem es um die Ehre geht: "Ich werde Mila heiraten!"

Ihre Mutter seufzte erneut und ärgerte sich insgeheim über das unwirkliche Selbstbewusstsein.

"Haben Sie Mila denn gefragt?" wollte sie wissen.
Fritz rutschte die Stufen herab, nahm Mila an der Seite und sah errötend zu ihrer Mutter hinüber als er sagte: "Kommen Sie, ich werde es tun!"

Er rollte in die große Thermalhalle und Tagete laut in die Hände. Mila blieb dicht neben ihm. Franziskus erkannte gleich, worum es ging und rief mit seiner Bassstimme, die wie ein Essensgong tönte: "Sie werden heiraten!"

Fritz rutschte also vom Brett und bat Mila, ihm den rechten Fuß zu reichen - was sie auch tat. Dann fragte er sie vor Gott (auf den er insgeheim hoffe, aber an den er nicht glauben wolle) und vor all diesen Menschen (an die er glaube, aber auf die er nicht hoffen möge), ob sie seine Frau werden wolle.

Unter der byzantinischen Kuppel war es still geworden. Alle schauten auf Mila, die den Fuß zurückzog, um sich Wassertropfen aus dem Gesicht zu streichen. Dann gab sie ihre Antwort, und alle brachen in Jubel aus, als wäre eine andere nicht möglich gewesen.

Der Gynäkologe, ein alter, schon etwas zittriger Mann mit weißem Spitzbart, sagte abenteuerlustig: "Den Befunden nach schafft sie's nicht - ganz gleich, ob mit oder ohne Kind! Aber wenn sie's schafft, dann werde ich das Kind auch holen!"

"Und das Kind?" fragte Milas Mutter besorgt.

Der Alte lächelte jetzt vergnügt: "Ob es normal ist? - Nun, an jeder Hand sechs Finger und an jedem Fuß sechs Zehen, eine leichte Überkompensation der Natur. Ansonsten wird es so normal sein, wie wir das von hier draußen sagen können!"

Mila nahm das hübsche Foto vom Ultraschall mit nach Hause und zeigte es dem Pfarrer, der eine Art Vormund war. Um ganz sicher zu gehen, suchte der Rat bei seinem Bischof, der den Fall der Bischofskonferenz vorlegte. Diese unterhielt einen ständig tagenden Ausschuss über etwaige Ausnahmen vom kirchlichen Abtreibungsverbot.

Den Theologen lag, wegen der Dringlichkeit des Falls, schon bald ein vollständiges Dossier vor, das die Lebensläufe von Fritz und Mila enthielt, ihre Krankheitsgeschichten, klinische Gutachten und nicht zuletzt eine Reihe von Fotos, die ihre Behinderungen zeigten und die neueste Aufnahme vom Ultraschall, auf der das Kind Finger und Zehen wie zur Nagelpflege spreizte.

Dennoch wollte man sich selbst ein Bild machen, bestellte Mila ein und gab ihr Stifte zum Malen. Sie malte ein Haus und einen Baum, und man bewunderte die Geschicklichkeit ihrer Füße.

Ein pausbäckiger Theologe aus dem Rheinland setzte sich sogar neben sie, schüttelte sorgenvoll den Lockenkopf in Richtung der anderen Geistlichen und sagte einfühlsam: "Ach, Mädsche! Wat machste nur, wat machste nur! Nu belur dich doch ens! Un dinge Spezi! Dat jit doch nix Halbes un nix Janzes! Sach doch ens selbs: Som ma et nit weg maache?"

Mila antwortete einfach: "Ja!"

Eine japanische Touristengruppe, zehn oder zwölf Männer in Business Anzügen, durchsichtigen Plastikregenmänteln und klobigen Schuhen, entdeckte die Körper, die auf der Höhe der Kunsthalle in einem Wehr der Oos hängen geblieben waren. Es war schon fast dunkel, und die Japaner waren auf dem Weg zu einem Stripteaselokal gewesen, das sie am Nachmittag gleich gegenüber dem 'Haus des Kurgastes' entdeckt hatten. Da sie sich nicht einigen konnten, wer bleiben und wer gehen sollte, marschierten alle zur Gäste-Information, die auf ihrem Weg lag. Es war eine kleine Prozession, gut sichtbar, weit jeder der Japaner eine milchfarbene, in der Dunkelheit weithin leuchtende Plastiktüte mit sich führte, worauf zu lesen war: Spiegel-Leser wissen mehr!

Die Japaner verbeugten sich vor der Dame von der Gäste-Information und erzählten, was sie gerade gesehen hatten. Der Senior unter ihnen erklärte, dass der an Dienstjahren jüngste Manager ihrer Gruppe bereit sei, die Polizei an die betreffende Stelle zu führen. Die anderen wünschten jedoch, noch etwas von der Stadt zu sehen.

Die Dame von der Gäste-Information verbeugte sich höflich und erklärte den Besuchern, dass es im heimischen Schwarzwald einen alten Brauch gebe, der sogar bis auf die Germanen zurückgehe und zur Zeit der Sommersonnenwende, also in diesen Tagen, fleißig geübt werde: nämlich große Strohpuppen, die Menschen täuschend ähnlich sehen, Bäche und Flüsse hinabtreiben zu lassen - so wie ein anderen Gegenden Europas Feuerräder von den Bergen gerollt wurden oder sich Liebespaare auf den Rübenfeldern paarten, um die bösen Geister zu vertreiben. Die Puppe jedenfalls, die dabei am weitesten komme, werde gekrönt. Deshalb werde man nun also den Eigentümer der Puppe in der Oos ausfindig machen und ihn vom genauen Fundort verständigen.

Die Japaner waren beeindruckt und zufrieden, verbeugten sich und zogen wieder ab. Die Dame von der Gäste-Information nahm eine Karte der Stadt, zeichnete den Fundort ein und legte eine durchsichtige Scheibe darüber, mit genauen Markierungen für die Abstände, stellte das nächstgelegene Hotel fest und telefonierte mit dessen Portier. Der stimmte ihr zu, dass es sich um eine der vertraglich mit den Bettlern und Säufern festgelegten Situationen handeln müsse. Er marschierte umgehend zur Tiefgarage des Baden-Badener Kongresshauses, wo in den Sommermonaten stets einige der Bettler übernachteten. Dort traf er auf Franziskus und Tini und rüttelte sie aus ihrem Suff. Nach langem Gemaule und Gezerre machten sich die beiden auf.

Wehklagend über ihr Rheuma watete Tini ins Wasser, befestigte irgendwo an dem undurchschaubaren Gemenge einen Kälberstrick und dann zogen beide mit letzter Kraft die Leichen über das ansteigende Ufer der Oos bis auf eine Art Tablett, das in Franziskus' Rollstuhl eingehängt und über die Armlehnen geklappt werden konnte.

In Tran und Dunkelheit bemerkten die beiden nicht, wen oder was sie wegfuhren. Es waren ihnen auch egal. Bis zur weißen Linie fehlten nur ein paar Meter - aber um sicher zu gehen, überquerten sie die Lichtentaler Allee in Richtung Kunsthalle, wo es keine Hotels gab.

Zuerst wollte Franziskus die Last in den jenseitig angrenzenden Büschen abladen. Doch Tini fror erbärmlich und klappte das Tablett einfach hoch - ungefähr dort, wo zuvor bei der hochgelobten Chamberlain-Ausstellung des Museums eine der berühmten Autoblech-Plastiken in der Allee ausgesetzt worden war.

Die Totenstarre hatte noch nicht nachgelassen, und die wenigen Stunden, die die Performance dauerte, hielt die Plastik ihr tropfendes Gleichgewicht: ein unförmiges, Schrecken erregendes Wesen, an beiden Enden des Körpers mit Köpfen bewehrt, mit überlangen Armen und Beinen, mehrfach verschlungen und verdreht, bizarre Wölbungen auf Vorder- und Rückseite.

Gegen Mitternacht kam ein älteres Paar vom nahegelegenen Spielcasino, um in der Allee noch einmal frische Luft zu schöpfen. Der Mann trug einen Smoking, die Frau ein langes Abendkleid. Sie spazierten eine Weile schweigend unter dem Baldachin der Bäume. Auf der Höhe der Kunsthalle verharrten sie für einen Moment. Die Frau schüttelte missbilligend den Kopf, der Mann reichte ihr den Arm und sie spazierten weiter.

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