Lucky in Kessel

 

 

Sie sagt, ich habe mich in der Mitte des Kreises befunden, während andere Kämpfer mich angriffen. Sie sagt, es habe sie erregt, mich auf diese Weise kämpfen zu sehen und sie habe gleich den Wunsch verspürt, mit mir zu schlafen.

 

 

Kata

 

 

 

 

Wir sind stehen geblieben, aber der Rhein zieht unbeeindruckt von unserer sonntäglichen Trägheit weiter und überschwemmt die Ufer. Marianne starrt hinunter auf das graubraune Wasser, hat sich eine Zigarette angezündet und hängt schon eigenen Gedanken nach. Ihr Gesicht ist schmal und blass und pickelig vor Kummer. Der Mangel an frischer Luft und das verdammte Rauchen, das sie nicht lassen kann.
"Vielleicht kann man es noch beeinflussen?"
Aber ich habe keine Lust, schon wieder über all das zu reden und mache nur eine müde Handbewegung in Richtung Wasser: "Man hat das Gefühl, dass sich die Unruhe ausbreitet."
Sie atmet den Rauch in den trüber werdenden Nachmittag und wirft mir einen skeptischen Blick zu: "Was für eine Unruhe?"
"Na, die der Fluss mitbringt, wenn er über die Ufer tritt..."
Aber Marianne zuckt nur mit den Achseln.
Ich überlege eine Weile, was ich eigentlich sagen wollte: "Ich glaube, das Einzige, was hier nach Weite aussieht, ist der Fluss."
Ich will schon abdrehen, doch dann spüre ich einen Stich in den rechten Handrücken. Ein Schlag mit der anderen Hand, ein Reflex, und von der für die Jahreszeit unverschämt frühen Stechmücke bleibt nur eine formlose Masse. Die Reste schnippe ich weg, in den mit Steinchen vermischten Sand, zu dessen ununterscheidbaren Teilen sie werden.
Wir wollten eigentlich ein paar Schritte gehen, haben es aber wieder nur bis ans sandige Nordufer von Grafenwerth geschafft, wo der Blick bis zum Drachenfels und die Weinberge reicht. Vom Bootshaus des Rudervereins gegenüber trägt ein böiger Wind eine Lautsprecherstimme über den toten Flussarm, der Stadt und Insel trennt.
'Sky is not always blue / you are not always mine.'
In den Refrain könnte man sich einhören. Aber der Wind ist launisch genug, immer wieder mal die Richtung zu wechseln. Bei alledem geht mir durch den Kopf, dass Marianne und ich ewige Zeiten nicht mehr zusammen getanzt haben und dass es vielleicht den Versuch wert wäre, sie in den Arm zu nehmen und es einfach zu tun.
Aber so etwas ist schwer. Verdammt schwer. Viel schwerer als eine fremde Frau zu fragen, ob sie mit einem tanzen will.

 


1

Ein paar wichtige Dinge im Leben habe ich getan. Ich habe eine Frau gefunden und sie geheiratet. Wir haben Kinder, gegen die man im Großen und Ganzen nichts sagen kann. Wir haben ein Reihenhaus mit einem kleinen Reihenhausgarten; aber immerhin groß genug, dass ich Lucky, meinen Malamut, hindurchjagen kann. Und wir haben seit zehn Jahren die Blo-Tankstelle mit der Werkstatt. Auch wenn wir nur Pächter sind und uns die Anlage nie gehören wird. Und da ist dreimal in der Woche Karate bei Shogun-Kessel: ein Verein, in dem ich seit Jahren Mitglied bin, ein Sport, der mir mehr gibt als nur körperliche Kraft.
Ein paar nicht weniger wichtige Dinge habe ich noch auf meiner Wunschliste. Ich weiß nicht, ob ich sie jemals tun werde: für ein Jahr oder zwei etwas mehr von der Welt sehen; mich auf die Suche nach meinem Vater machen, von dem ich, Hans Hämpken, auch noch im Alter von 39 Jahren nicht das Geringste weiß; und vielleicht etwas Ungewöhnliches tun, etwas wirklich Ungewöhnliches, was immer das heißen mag -


Ein paar wehmütige Montagmorgengedanken an das verflossene Wochenende im Kopf gehe ich weg von der Straßenfront, wo ich den Eiscremeständer von Langnese aufgestellt habe. Über Nacht ist es noch einmal kalt geworden. In der Eifel und im Westerwald soll es sogar geschneit haben. Doch es sind nur wenige Wagen, die aus den höher gelegenen Stadtteilen ihren Weg durch die Hauptstraße nehmen und einen Rest Schnee mitschleppen, wie einen bösen Traum, der sich nicht abschütteln lässt.
In der Werkstatt ist die Heizung ausgefallen und ich wünschte, heute Morgen einen wärmeren Pullover angezogen zu haben. Meine Hände sind ganz klamm vom Hantieren am Getriebe eines uralten Volvo. Doch gegen elf löst sich das Bleigrau langsam auf, und endlich drückt sich die Sonne an einigen Stellen durch die Wolkenschicht, erst zögernd, dann kraftvoll. Mit Folgen, die einen glatt umhauen: Denn vom Park der Realschule gegenüber leuchten auf einmal die gelben Blüten von Forsythien herüber, und die Bäume dahinter stehen nicht mehr kahl wie noch ein paar Tage oder Stunden zuvor, sondern zeigen sich nach diesem Speed-Tuning im zartesten Grün.
Während ich noch stehe und staune, saust ein roter Fiesta unters Dach an Säule zwei. Der Motor, das falsche Brummen fällt mir auf. Eine Frau steigt aus. Jung, wenn auch nicht mehr wirklich jung. Also mitteljung. In schwarzen Jeans, die unten wie in den verrückten Sechzigern ausgestellt und mit einer Stickerei versehen sind. Ornamental. So als hätte man zum Schluss noch einen halben Meter Stoff und ein paar lange Abende übrig gehabt. Darüber trägt diese Frau eine rote Windjacke.
Ich habe sie hier schon gesehen. Schmale Figur. Hübsches Gesicht mit halblangen und halbblonden Löckchen, sodass ich mich frage, ob das echt ist. Sie schaut sich suchend um, bevor sie den Tankverschluss öffnet und nach dem Zapfhahn fürs Normalbenzin greift. Als sie ihn sicher hat, schleppt sie das Ding zwei Schritte rückwärts. Ihre Beine sind, für eine so zierliche Person, ich schätze mal eins fünfundsechzig, super lang. Und irgendwie wirft sich die Kleine in ihre Figur und steht nicht einen halben Meter daneben, wie ich es von Marianne kenne, die zumeist unsicher ist, was sie damit anfangen soll. Diese Frau scheint zu wissen, was sie damit anfangen soll.
Ich sammle erst mal weiter Papierfetzen aus den mit Krokussen und Narzissen bepflanzten Beeten, die meine Tankstelle von der Hauptstraße trennen. Verpackungen von Caprieis und Duploriegel, auf die man Pfand einführen sollte. Währenddessen pumpt die Blonde für zwanzig oder dreißig nagelneue Euro Blo-Benzin, den Liter zu 1,06 €, in ihren Fiesta.
Einmal hebt sie wie unabsichtlich den Kopf in meine Richtung. Ich sehe das spitze Kinn mit dem Grübchen. Sie schaut auffordernd direkt zu mir rüber. Und dann schenkt sie mir ein Lächeln von der überraschendsten Flash-Sorte:
He, Mann, schön, dass es dich gibt!
Was anderes kann das nicht heißen. Und weil ich mit solchen Streicheleinheiten nicht gerade überhäuft werde, lächele ich zurück. Ohne Grübchengrube und wegen des unerwarteten Geschenks befangen wie ein Frosch, der zum ersten Mal die Leiter hoch darf.
Das war's dann wohl! denke ich schon.
Doch die Kleine kommt auf mich zu. Beides ist zu einer aufregenden Nummer vereint: der körperbetonte Gang und das Schön-dass-es-dich-gibt!-Lächeln. Sodass ich nur noch leise "Wow!" sagen kann und mich abwende, um noch mehr Papier oder wenigstens Unkräuter zu suchen, vertraute Handgriffe, die mir über Abgründe wie diesen helfen sollen.
Als ich mich wieder umdrehe, schaue ich dem fremden Wesen direkt in die Augen.
Ja. Es gibt jede Menge Wesen mit himmelblauen Augen. Aber die Augen dieser Frau hauen einen auf die kurze Distanz schon um: Ein helles, leuchtendes Blau von einer gefährlichen Strahlkraft. Sie schauen mich aufmerksam an und es ist so, als arbeiteten sie eine Checkliste ab, deren Ausgangsfrage sein könnte: Ist das was für mich?
Die Frau hat eine leicht glänzende Haut und Rouge auf den Wangenknochen. Nicht plump. Nicht zuviel. Und sie hat einen Strich von hellblauem Lidschatten unter den schön geschwungenen Brauen. Ein Blau, das verdammt gut zu ihrer Augenfarbe passt.
"Hallo!" sage ich möglichst locker. "Kann ich was für Sie tun?"
Sie nickt und ihre Löckchen bewegen sich für einen Moment in Richtung der kleinen Nase. "Bei meinem Fiesta ist der TÜV überfällig. Ich hab's einfach vergessen."
Uff, denke ich ernüchtert: Deshalb ist sie so freundlich.
"Am Besten", sage ich um einiges ernsthafter, "Sie lassen sich drinnen einen Termin geben."
"Er brummt seit einiger Zeit so komisch. Ich hatte nicht viel Lust, damit zum TÜV zu fahren."
Ich nicke und senke den Kopf, als könnte ich die Ausrede akzeptieren. Auf meinen Arbeitsschuhen schillert Öl.
"Ich hab's auch gehört. Müsste ich mir aber genauer ansehen", sage ich vorsichtshalber. "In der Werkstatt, auf dem Prüfstand."
"Und jetzt ginge das nicht?"
Ich stemme die Arme in die Seiten. Ich bin nicht klein, aber mehr als eins achtundsiebzig auf fünfundsiebzig Kilo werden es nicht: "Heute ist TÜV-Abnahme. Alles super voll."
Ihre Augen wandern zu meiner Brust, wo in weißen Buchstaben auf dem schwarzen Arbeitskittel steht: Hans Hämpken, Kfz-Meister.
"Nur mal kurz gucken, Herr Hämpken!"
Schöne weiße Zähne strahlen mich an. Ein wenig spitz, wie für ein kleines Raubtier gemacht. Die Lippen sind nicht angemalt, aber auch ohne Lippenstift hat sie einen roten Mund, der sich nie ganz zu schließen scheint und irgendwie kess wirkt. Wahrscheinlich ist sie eine, die aus dem Flugzeug springt, die Reißleine zieht und unbeirrt davon ausgeht, dass sie eine Punktlandung machen wird. Selbst wenn sie noch nie gesprungen ist.
Die Fiestafrau wippt jetzt vom linken aufs rechte Bein. Wieder mit vollem Körpereinsatz.
"Bitte!"
Vielleicht der richtige Zeitpunkt, nicht mehr verschnupft zu sein. "Dann fahren Sie den Wagen an die Seite", sage ich und schaue ihr hinterher, wie sie zu ihrem Fiesta zurückgeht und einsteigt.
Etwas steif trotte ich dann los. Mein rechtes Knie schmerzt bei diesem Schmuddelwetter, wie wir es in den letzten Tagen hatten. Aber Mannis alter Trainingsspruch holt mich ein: ‚Was dich nicht umbringt…'
Ja, ja, ich weiß. Ich zeige ihr, wo sie hin soll und dirigiere sie mit dem Wagen noch ein Stück vor und zurück, bis er so steht, dass er den Tankbetrieb nicht stört. Ein Mitsubishi Colt säuft unterdessen Super, ein Ford Mondeo ebenfalls. Die Kunden, zwei junge Frauen und ein Mann mit einer Franzosenkappe, grüße ich freundlich im Vorbeigehen.
Ein Routineblick auf Kotflügel und Türkanten des Fiesta zeigt kleinere Rostspuren. Die Reifenprofile sind ausgelatscht, das sieht auch ein Blinder, die Sitzpolster abgewetzt. Hinten ist ein Kindersitz aufgeschnallt. Im Wagen liegt bunt verstreuter Krimskrams, Zeitschriften, Kinderspielzeug. Aber das ist mir vertraut.
"Machen Sie mal die Haube auf, bitte!"
Seit sie den Zündschlüssel gedreht hat, tönt aus ihrem Radio ‚Calling'. Und als ich mich tief über den Motorraum bücke, um mir das Innenleben des Fiesta anzusehen, habe ich den Videoclip vor Augen, wie Geri Halliwell, dieser hübsche blonde Feger, sich durch ein paar Landschaftsaufnahmen räkelt.
'Calling out your name
burning on the flame
play the waiting game…'
Ich mag den Song: Was gäbe es Besseres, um sich auf eine fremde, warme Haut einzustimmen?
Der Kühler ist undicht. Der Motor verliert Öl. Ich höre ihn im Leerlauf an und lasse die Fiesta-Frau ein paar Mal kräftig Gas geben, Schumi in der Pole-Position. Als sie wieder aussteigen darf, summt sie den letzten Takten von ‚Calling' hinterher.
"Wie alt ist der Wagen?"
"Oh, ich weiß nicht. Neun oder zehn Jahre."
"Und wie viele Kilometer?"
"So hundertsechzig Tausend, glaub ich. Was Schlimmes?"
Ich stehe auf der rechten, sie auf der linken Seite. In ihrem Gesicht lese ich jetzt nachhaltige Aufmerksamkeit.
"Nun, das sind nicht bloß ein paar Sachen, die zu machen wäre. Sonst geht am Ende nicht nur der Motor hopps…"
In den blauen Augen - ein ganz anderes Blau als das von Frau Halliwell - zieht Sorge auf. Die Fiestafrau beugt sich über den Motorraum, unter dem weißen Shirt schimmert ein roter BH, ihre seesandfarbenen Brauen sind weit hoch gezogen.
"Hörte sich das etwa sehr teuer an?"
Aber es ist nicht neu, dass einen Kunden die Angst packt, wenn das beste Stück droht, seinen Geist aufzugeben. Manchmal gibt das meiner Arbeit fast eine Art von höherer Weihe.
"Ich muss mir den Wagen erst gründlich ansehen."
"Wann?"
"Diese Woche bin ich zu."
"Wann?"
"Mittwoch nächster Woche."
"Geht es nicht früher?"
"Unmöglich."
"Nichts ist un-mööög-lich!"
Sie stimmt die Toyota-Werbung an, als hätte sie ursprünglich mitgesungen. So was habe ich noch nie gehört. Und dann knallt mir erneut das Flash-Lächeln entgegen und gibt mir wieder das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.
Was soll ich antworten?
Mein Herzschlag beschleunigt sich rasant. Beim Karatetraining geschehen manchmal Unfälle wegen einer kleinen Unachtsamkeit: Man greift ein bestimmtes Ziel an, man konzentriert alle körperlichen und geistigen Kräfte, aber es gelingt immer nur für verdammt kurze Zeit.
Außerdem fällt mir mein Freund Manni ein: "Du hast ein Problem mit der Nähe, alter Junge - also verpiss dich!"
Er meint natürlich: Früh genug. Und ich sollte auf ihn hören.
"Lassen Sie sich", sage ich dann möglichst sachlich, "für Anfang nächster Woche einen Termin geben."
So wie sie gestrickt ist, müsste sie mir eigentlich um den Hals fallen.
Stattdessen fragt sie: "Was meinen Sie, kann ich mit dem Wagen noch fahren?"
"Wissen Sie, dass die Reifenprofile blank sind?"
Ohne eine Antwort abzuwarten, gehe ich nach hinten: SU-FR-1207. Ich schätze, ihre Initialen und ihr Geburtstag. Darüber klebt die TÜV-Plakette.
"Sie sind zwei Monate überfällig."
"Ich bin meist überfällig", sagt sie mit einem Lächeln. Doch ich habe das Gefühl, dass es besser wäre, solche Zweideutigkeiten nicht ernst zu nehmen. "Also gut", sagt sie: "Dann geh ich jetzt und mache den Termin aus - okay?"
"Okay."
Ich schaue ihr nach, wie sie Richtung Kassenraum verschwindet. Als ich die Hände in die Taschen schiebe, merke ich, dass ich die Papierfetzen noch habe und werfe sie in den Langnese-Müllkorb.
Durch die vergitterte Scheibe sehe ich, wie Marianne mit der Fiestafrau verhandelt und schnell baut sich bei mir eine solide Anspannung auf, als könnte Marianne die Sache noch verderben. Es ist, als stünden da zwei Fotos nebeneinander: eins in Schwarzweiß, eins in Farbe. Vermutlich sucht Schwarzweiß gerade nach einem freien Termin, wo es keinen mehr gibt.


Ich will schon abdrehen zur Werkstatt, wo Richard Fendel wahrscheinlich gerade seinen letzten schlurfenden Gang um einen Fiat Tempra macht, da biegt der beige 7er BMW von Dr. Retz ein.
Meine Nackenmuskeln verhärten sich, mein Atem wird flacher. Retz ist im Verkehrsausschuss. Das kann im Moment nichts Gutes bedeuten. Er fährt auch nicht an eine Zapfsäule, sondern an den Rand, steigt in seiner energischen Art aus und schaut sich um wie ein General auf erobertem Land.
Aber Retz ist seit Jahren ein guter Kunde. Die Blo-Tankstelle liegt auf seinem Weg ins Büro, von einem Wohnviertel oberhalb der Stadt, wo der Blick auf das Rheintal unverbaubar ist. Er ist es gewesen, der uns mit der Genauigkeit des Rechtsverdrehers auf die Bedrohung hinwies. Retz ist nun mal kein froher Bote.
Er erwartet, dass ich zu ihm hingehe - was ich auch tue, ohne mir etwas zu vergeben. Dabei schaue ich aufmerksam nach allen Seiten, um nicht den Anschein zu erwecken, dass ich sonst nichts zu tun hätte. Retz trägt einen zweireihigen Wettermantel, einen grauen Anzug und einen Businessschlips in gelb-blau, den Farben seiner Partei, mit einem raffiniert geschlungenen Knoten, wie ihn meine Hände nie hinbekämen. Sein gepflegter Schädel ist der Abschluss eines blütendweißen Hemdes, eine Farbe, die in meinem Beruf keinen Sinn macht.
Als ich bei ihm ankomme, wische ich mir die Spuren von Öl und Schmierfett am Kittel ab. Seine Hände sind schmal und auch im Winter braungebrannt. Und natürlich so sauber, dass es unsereinen dazu treibt, einen Händedruck zu verweigern, bloß um nichts zu verderben.
"Schönen guten Tag, Dr. Retz. Ich gebe Ihnen lieber nicht die Hand."
"Oh, das macht doch nichts."
Es ist nie klar, ob er meine Hand trotzdem will. Aber er kommt gleich zur Sache: "Also, es wird morgen ein Hinweis im Tagesanzeiger erscheinen, aber ich dachte, ich sag's Ihnen schon mal. Nächste Woche findet eine Sitzung des ‚Ausschusses für Verkehr und Umwelt' statt. Es geht um Detailuntersuchungen im Rahmen des neuen Verkehrsentwicklungsplanes. Darin wird ein Bericht über die Bebauung im Süden der Stadt vorgestellt. Sie wissen ja aus eigener Anschauung, dass der anwachsende Verkehr und die Maßnahmen zur Verkehrslenkung ein heiß diskutiertes Thema sind."
Ich nicke eifrig, doch ich weiß, dass mir die Bereiche, in denen sich Retz bewegt, fremd bleiben werden. Schon sein wichtiges Gesicht: klare dunkle Augen, eine scharf geschnittene Nase, die tief runter gezogen ist und in einem buschigen Schnurbart endet. Ich frage mich, ob und wie er Obstkuchen mit Sahne isst. Von intimeren Dingen ganz abgesehen. Marianne mag keine Schnurrbärte, mir fehlt also die Erfahrung.
"Haben Sie die Leserbriefe gesehen?" frage ich ihn.
In der letzten Woche waren im Tagesanzeiger Leserbriefe abgedruckt, von Anwohnern der Hauptstraße. Die Leutchen verlangten, ihre Straße vom Durchgangsverkehr zu entlasten.
"Am liebsten würde ich auch mal einen Leserbrief schreiben, als Antwort eines wirklich Betroffenen, und aufzählen, was es für meine Familie bedeutet, wenn diese Verkehrsberuhigung kommt."
"Was wollen Sie schreiben?"
Er legt den Kopf schief und geht in die Lauerstellung des Juristen, bereit mit ein paar Gesetzesformeln jede Betroffenheit weg zu wischen.
Trotzdem erzähle ich ihm, was Marianne und ich hin- und hergewälzt haben. Aber Retz unterbricht mich schon nach ein paar halben Sätzen: "Diesen Leserbrief würde ich nicht schreiben!"
Ich schaue ihn feindselig an: "Warum?"
"Die anderen sind in der Überzahl", sagt Retz: "Wenn Sie Ihre Meinung als Leserbrief erscheinen lassen, werden Sie nur erreichen, dass sich noch mehr Leute zu Wort melden. So was muss man diskret handhaben."
Auf einmal ist mir das auch klar. Wahrscheinlich wären wir ins offene Messer der öffentlichen Meinung gerannt. Und in einer Kleinstadt wie Kessel kann so was hübsch unangenehm werden.
Ich lasse die Arme fahren und atme tief aus. Am liebsten hätte ich ihn umarmt.
"Mmh", sage ich also: "Das leuchtet mir ein. Vielen Dank auch!"
Aber Dr. Retz ist schon wieder auf dem Weg zu seinem BMW.

So sieht das aus zurzeit. So sieht das aus. Wir hängen in der Luft, und wenn ich etwas hasse, ist es Ungewissheit: Man plant sein Leben und muss sich dann, finde ich, darauf verlassen können, dass man es leben kann wie geplant. Da haben die Politiker ihre Aufgabe: also nicht groß einmischen, nur sicherstellen, dass man es durchziehen kann wie geplant.

 

 

2

Als ich an diesem Abend nach Hause komme, glänzt nur verhaltenes Licht in den nicht besonders großen Fenstern unseres Hauses. Vermutlich konzentriert sich das Familienleben wieder auf unsere Küche: zwei gegenüberliegende Zeilen, hinter deren immer noch freundlich wirkenden Kunststofffronten jede Menge Innenleben der Familie gespeichert ist. Ich höre Mariannes Stimme durch das gekippte Küchenfenster. Wahrscheinlich spricht sie mit Nicole, die ebenso wahrscheinlich am Esstisch über ihren Schularbeiten hockt. Sie sollte längst fertig sein. Das würde den gereizten Unterton in Mariannes Stimme erklären.
Nicole, die sonst nicht schlecht ist in der Schule, macht neuerdings ziemlich viele Deutschfehler. Als sie mit der ersten Arbeit nach Hause kam, in der die Rechtschreibung ‚ungenügend' war, schluckten wir und hielten es für einen Ausrutscher. Aber dann kam die nächste Arbeit. Und an deren Ergebnis war so wenig zu deuteln wie am Ergebnis eines Bremsentests in meiner Werkstatt. Höchste Zeit, etwas zu unternehmen.
Ich habe umso heftiger daran zu kauen, weil man auch mir vor Jahren zu verstehen gegeben hat, dass meine Leistungen nicht ausreichten. Ich war damals im zweiten Semester auf der Fachhochschule. Dazu kam, dass etwa zur gleichen Zeit Marianne mit Nicole schwanger wurde und damit war schnell klar, wo ich nun hingehörte. Dennoch hängt mir die Sache bis heute nach und es gibt wohl niemanden, der mich trösten könnte, dass es, was Nicole angeht, am Vater nicht gelegen haben kann.
Markus' Mofa steht nicht vor dem Haus. Ich habe eine Art Unterstand gezimmert, wo die Kinder ihre Fahruntersätze abstellen. Das sieht zwar nicht fürchterlich elegant aus, auch die Nachbarn hatten was zu meckern, aber es war mir immer noch lieber, als dass die Sachen herumfliegen. Der junge Herr zieht vermutlich mit seiner Clique durch den Siebengebirgsraum, befeuert durch das Geknatter seines Mofas, das wir ihm zu seinem 15. Geburtstag geschenkt haben.
Ich fühle mich ziemlich angespannt, als ich die Tür mit der Milchglasfüllung aufschließe. Aber Lucky ist sofort da und umkreist mich innig jaulend. Ich beuge mich zu seinem schweren Kopf hinunter und walke die schwarz und weiß gezeichnete Halspartie.
"Mein Guter", brumme ich dazu: "Hast du auf mich gewartet? Du hörst mich schon, auch wenn ich noch einen Kilometer entfernt bin, was?"
Ich sehe, wie glücklich das Tier in diesem Moment ist und das stimmt mich gleich besser. Etwas Zuwendung zum richtigen Zeitpunkt, das ist das ganze Geheimnis.
Lucky neben mir öffne ich die Tür zu unserem Wohnraum. Ein schmaler Schlauch, der besonders im Winterhalbjahr niedriger wirkt als die zwei Meter fünfzig, die er nach DIN-Norm haben sollte. Rechts ein kleiner, selten genutzter Kamin, links am Fenster eine durchgesessene Ledercouchgarnitur mit einem Einzelsessel, auf den sich jetzt der Malamut mit einer geschmeidigen Gleitbewegung niederlässt. Ich sehe das nicht ungern, während es jedes Mal Mariannes Unwillen erregt.
In der Ecke, welche die Kellertreppe abtrennt, steht der Fernseher, ein 82er Samsung aus dem Weihnachtsgeschäft des vorletzten Jahres. Er hat sich nahtlos an unser Familienleben angepasst. Vor ihm haben wir wirklich schöne, aber auch - wenn ich an den Anschlag auf das World Trade Center denke - dramatische Stunden verbracht.
"Hallo!" rufe ich übertrieben, als wäre ich von dem, was ich in meinem Haus antreffe, überrascht: "Da ist ja meine absolute Lieblingstochter!"
Nicole rutscht mit ihrem kleinen Leggings-Po vom Stuhlkissen und kommt gelassen auf mich zu.
"Papa! Ich bin doch deine einzige Tochter", erklärt sie relativ ernst meinen Fehler, den ich freilich schon unzählige Male begangen habe.
"Oh, wirklich? Stimmt das, was Nicole da sagt?" frage ich Marianne.
Sie hat eine weiße Schürze mit lila Borte umgebunden und sieht in der Tat gestresst aus. Draußen hat mir der Abluftventilator den Geruch von Bohnensuppe entgegengeweht.
Marianne wischt sich die Hände an der Schürze ab.
"Ja, das stimmt: Nicole ist deine einzige Tochter."
"Wenn sie nun aber trotzdem meine Lieblingstochter ist?"
"Ja, da weiß ich auch nicht weiter", sagt Marianne.
Ich gebe ihr dafür eine Art Kuss auf die linke Wange, was ich nicht jeden Abend tue.
"Oh Papa, nein!" ruft Nicole, als wäre eine schlimme Vorstellung damit verbunden.
Ich hebe sie hoch zu mir und lasse mich von ihren dünnen Ärmchen umschlingen und von ihrem Limoatem betören.
"Was macht denn die Schule?" frage ich Nicole. Und in Richtung Marianne gebe ich mein akut gewecktes Hungergefühl wieder: "Riecht lecker. Krieg ich was davon?"
"Nee. Ist für morgen. Ich bin auch noch nicht fertig. Du kannst mir ja beim Kartoffelschälen helfen. Ich muss noch mit deiner Tochter arbeiten. Die versteht ihre Deutschaufgaben nämlich nicht. Oder willst du das vielleicht machen?"
Nicole ist jetzt eines dieser Pisa-Kinder, und mittlerweile weiß sie das auch. Marianne hat mir gesteckt, dass Nicole nun nicht selten traurig durch die Gegend schleicht. Etwas, was mich ziemlich bedrückt. Denn Nicole ist sonst ein fröhliches Mädchen, dessen voreilige Klappe man eher dämpfen muss.
Ich ziehe ein langes Gesicht: "Kann ich wenigstens ein Brot haben? Und mir wäre eigentlich nach einer Flasche Bier."
"Soll ich dir eine holen?" fragt Nicole, dieses himmlische Wesen.
"Hm! Das wäre super!"
"Ich geh schon!"
Was für ein wunderbares Alter, in dem man seine Liebe für die Kinder umgehend zurückkriegt. Ein zwei Jahre noch, dann ist die schöne Zeit vorbei.
Nicole öffnet die Tür zur Kellertreppe, schreckt dann aber vor der Dunkelheit zurück: "Und wenn da Einbrecher sind?"
"Da sind keine Einbrecher, meine Kleine."
"Und wenn da doch welche sind?"
"Du guckst zuviel Fernsehen", ruft ihre Mutter aus der Küche.
"Nimm Lucky mit. Der beschützt dich."
"Nein, komm du mit!"
Ich seufze und nehme Nicole auf den Arm. Sie klammert sich wie ein Äffchen an mich, wozu ich allerdings auch nicht nein sage. Dann steige ich mit ihr die Stufen zum Keller hinab. Unten knipse ich das Licht an, zwei Neonröhren erhellen nach kurzem Flackern den Raum.
"Siehst du: Niemand da."
"Hätte aber sein können."
Ich lasse sie runter. Nicole trippelt ein paar Schritte über den mit bräunlichen Fliesen belegten Boden.
"Schnell, es ist kalt!" rufe ich ihr hinterher, als ich sehe, dass sie auf Strümpfen rumläuft. Sie schnappt sich aus dem Bierkasten, der in der Nähe der Waschmaschine steht, eine Flasche und kehrt zufrieden damit zurück. "Fein!" lobe ich meine Tochter. Doch irgendetwas bringt mich dazu, an dieses Lob mit veränderter Stimme anzufügen: "Wie steht's mit den Hausaufgaben? Noch nicht fertig?"
Als Reaktion will Nicole wieder auf den Arm und die Treppe hoch getragen werden, wie ein richtig kleines Kind.
"Och! Eigentlich ja. Nur, Mama meint, ich müsste üben."
"Ja und?"
"Ich hab aber keine Lust."
"Mmh."
Ich sollte wahrscheinlich irgendwas Motivierendes sagen, wie: ‚Es ist verdammt wichtig für später, dass man richtig schreiben kann!'
Aber ich habe nicht mehr den Nerv dazu.
Zumal sich um diese Tageszeit Nicole auch von ihrem Lieblingsvater nicht motivieren ließe. Unser Problem könnte leicht zu einem Selbstläufer des Abends werden, was ich sicher nicht will.
Zum Abendessen staube ich doch noch einen Teller von Mariannes Bohneneintopf ab: die grünen Bohnen aus der Tiefkühltruhe mit reichlich Kartoffeln in reichlich Suppenwürfelbrühe, klein geschnittene Fleischwurststückchen, fertig. Nahrhaft und lecker.
Ich löffele die Suppe, beiße dazu von einem übrig gebliebenen Brötchen ab und schaue auf die Nachrichten im Heute-Journal. Ein paar Mal zappe ich dabei durch die zweiundzwanzig Kanäle, die wir im Süden von Kessel über eine Gemeinschaftsantenne empfangen.


In der Regel müssen wir um fünf aus den Federn. Deshalb sind lange Abende nichts für uns. Und auch wenn meine Kondition nicht schlecht ist, fällt bald alle Anspannung des Tages von mir ab, ich sinke watteweich in mich zusammen und nicke vor dem Fernseher ein. An diesem Abend jedoch fühle ich mich seltsam aufgedreht, wie nach mehreren Tassen Kaffee, was ich allerdings seit einigen Jahren vermeide. Ich bin unruhig wie vor einem Wetterumschwung.
Gegen zehn ist Nicole im Bett, ohne die Hausaufgaben verstanden zu haben. Nach wie vor ärgert mich, dass Markus immer noch nicht auf der Matte steht. Kein röhrendes Knattern seiner mit meiner Hilfe aufgemotzten 1,5 PS-Maschine, kein ruckartiges Abbremsen vor dem Haus, wo eine dunkle Reifenspur bis zum Abstellplatz verläuft.
Marianne sagt: "Lass ihn doch. Er ist bald sechzehn. Mit sechzehn war ich um die Zeit auch noch nicht zu Hause."
"Du warst auch nicht meine Tochter", sage ich, obwohl das ziemlich unsinnig ist.
"Das will ich meinen", antwortet Marianne, mindestens ebenso unsinnig: "Aber er ist dein Sohn."
"Was soll das heißen?" Das Geplänkel ist nicht ernst gemeint, doch wir driften gefährlich nahe an Empfindlichkeiten entlang. Trotzdem frage ich noch: "Und die Schule?"
"Das muss er selber wissen. Er ist alt genug."
Ich spüre, dass sie damit Recht hat. Neuerdings ist die Rede davon, dass der junge Herr so bald wie möglich mit der Schule aufhören will.
"Er ist nur noch unterwegs", beschwere ich mich.
"Wir sind auch ständig unterwegs", antwortet Marianne: "Willst du noch einen Teller Suppe?"
Es ist, als hätte sie mir meinen Wunsch von den Augen abgelesen. Und sie hat es zweifellos. Als ich nicke und glücklich lächele, huscht ein kleiner Triumph über ihr blasses Wintergesicht und hellt es auf.
"Auch noch Brot?"
"Klar."
"Dann ess' ich jetzt auch noch einen Teller. Aber beschwert euch nicht, wenn es morgen nicht reicht."
"Der neue Pizza-Service soll ganz gut sein. Wir bestellen einfach ein paar. Komm, setz dich."
Marianne sagt nichts dazu. Unser alter Pizza-Service hat, kaum dass der verdammte Euro da war, fünfzig Cent aufgeschlagen. Für jede Pizza. Während wir an der Blo-Tankstelle auf keinen Fall unter den ‚Euro-Preistreibern' sein wollten.
Ich schiebe auf dem mit allem möglichen Kram beladenen Küchentisch die Sachen etwas beiseite, damit Marianne und ich gemeinsam Platz finden, einen Teller Bohnensuppe zu essen. Ein wohlig schweigsames Tun. Im Hintergrund das nur durch Gelächter oder Beifall unterbrochene Gequassel irgendeiner späten Talkshow. Manchmal tauschen wir kurze Bemerkungen über den Verlauf des nächsten Tages, der an den Verlauf des heutigen Tages anknüpfen wird. Und das ist gut so. Ständige Veränderungen gingen über unsere Kräfte. Schon die Aussicht auf die neue Verkehrsführung zehrt an unseren Nerven und wir haben alle Hände voll zu tun, uns einen Freiraum zu erhalten, in dem sich ein Gefühl für Wohltaten wie diese späte Bohnensuppe ausbreiten kann.
Dann steht Marianne noch einmal auf, um für Markus einen Zettel zu schreiben: Falls er Hunger hat, kann er sich was von der Bohnensuppe nehmen…
"Er ist bald erwachsen", sagt sie.
"Davon merkt man nichts", sage ich.
Aber ich gebe zu, dass es etwas leichtfertig dahingesagt ist.
"Wir können nicht alles für ihn regeln."
Ich knurre unwillig. Aber es ist mir lieber, jetzt meinen zweiten Teller Bohnensuppe zu essen, als mich darüber auszulassen.


Zwei Tage später rauscht der Fiesta wieder auf den Hof. Ich bin gerade dabei, die im Freien abgestellten Kundenfahrzeuge zu kontrollieren, bevor ich endlich nach Hause düse. Man kann noch so aufpassen, trotzdem passieren ein oder zwei Aufbrüche im Jahr. Es ist jedes Mal verdammt unangenehm, einem Kunden erklären zu müssen, dass sein Wagen unsanft angetatscht wurde. Früher wollte ich diesen Burschen die Zähne einschlagen, sollte ich sie erwischen. Der Schreibkram, die Polizei, Versicherungen… Heute sehe ich das entspannter. Aber das hängt auch mit meinem Karate-Training zusammen.
Die Fiestafrau hält seitlich, wo ich sie vor zwei Tagen hin dirigiert hatte. Hinter sich den Kassenraum. Dort sitzt jetzt Heinrich, den ich Heini nenne. Ein achtzehnjähriger, etwas schmächtiger, aber sehr zuverlässiger Gymnasiast. An drei Tagen in der Woche übernimmt er den Abenddienst. Vielleicht will sie Zigaretten oder eine Fernsehzeitung?
"Hallo!" grüße ich. "Sie sind doch noch gar nicht dran."
Sie ist flink ausgestiegen, hat die Wagentür geschlossen und stemmt sich nun mit dem rechten Fuß rückwärtig gegen das rote Blech, als wollte sie sagen: Da steig ich erst wieder ein, wenn wir was geklärt haben!
Sie trägt ein blaues Fähnchen. Mit Sicherheit zu dünn für die Jahreszeit. Das zweite ihrer Giraffenbeine steht auf dem rissigen, von Ölflecken gemusterten Betonboden.
Die Beine sind die von Michelle Pfeiffer. Ich weiß es jetzt. Ich habe den Film im Fernsehen gesehen, ein paar Mal sogar. Es gibt da eine Szene, wo sie sich umzieht: aus irgendeinem Fummel raus und in Jeans rein. Vorher sieht sie aus wie so ein Flittchen, hinterher wie eine unter Umständen ganz patente Frau, die in der Nachbarschaft wohnen könnte. Und man ist jedes Mal happy, wenn man ihr auf dem Nachhauseweg begegnet, um ein paar freundliche Worte mit ihr zu wechseln.
Die Fiestafrau hat auch mit ihren Haaren irgendwas angestellt: im Nacken ein Schwänzchen, neben den Ohren Korkenzieherlöckchen. Ihr Mund hat eine neue Metalliclackierung. Rot und kussfest, da würde ich drauf wetten. Marianne benutzt keinen Lippenstift.
"Haben Sie noch was vergessen? Ich räume gerade zusammen…"
Vorsichtshalber schiebe ich beide Arme an die Hüften und starte ein wenig entschlossenes Lächeln.
"Dachte mir, dass ich Sie noch antreffe, Herr Hämpken.
"Was ist das Problem?"
"Ich kann Sie nicht bezahlen, wenn Sie den Fiesta reparieren. Jedenfalls nicht in Bar. Ich dachte, ich sollte Ihnen das sagen."
Ein Windstoß von weit jenseits der Siebengebirgshöhen fegt energisch über uns hinweg. Das ist also das Problem! Eines der ältesten überhaupt. Mein Blick fällt wie von selbst auf das Schild hinter dem Fenster:
Reparaturen
nur
gegen Bar!
Zwei- oder dreimal habe ich mich auf einen guten Namen oder ein Engelsgesicht verlassen und meine Arbeit für nichts und Nullo abgeliefert. In dieser Beziehung wird man irgendwann knallhart.
"Und warum können Sie mich nicht bezahlen? Das muss Ihnen doch vorher klar gewesen sein?"
"War es nicht!" Sie fängt wieder mit ihren Cheerleaderbewegungen an: "Sie werden mir das nicht glauben."
"Nur zu!" ermuntere ich sie.
"Also, ich hatte einiges Geld. Vielleicht nicht genug, aber immerhin. Ja. Und dann war ich Einkaufen. Im Hit-Markt. Was man so braucht für eine halbe Woche. Jedenfalls, an der Kasse hatte ich meine Geldbörse noch. Schließlich hab ich die Sachen bezahlt. Aber zu Hause war keine Geldbörse mehr da."
"Verloren?"
"Oder gestohlen. Ich weiß es nicht."
"Schlimm!" sage ich und schaue ihr aufmerksam ins Gesicht. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie mich auf den Arm nehmen will. "Und da war Ihr ganzes Geld drin?"
"Quatsch!" sagt sie heftig. "Aber mein Ausweis, mein Führerschein, meine Chipkarte für die Krankenversicherung und ein paar andere wichtige Sachen - und meine EC-Karte!"
Zuletzt kippt ihre Stimme, wird so dramatisch und schrill, wie sich das für ein solches Unglück gehört. Ihre Augen werden feucht. Mir ist jetzt genauso unbehaglich zumute wie einer Milliarde anderer Männer, die Frauen nicht weinen sehen können.
"Haben Sie das Ding sperren lassen?" frage ich deshalb etwas behutsamer.
Aber die Kleine hopst aufs andere Bein und sieht dabei nicht glücklicher aus: "Ich habe überlegt, wo ich gewesen bin... Ich habe den Wagen und alles Mögliche abgesucht… ich bin natürlich auch zum Supermarkt zurück, habe gefragt, ob man was gefunden hat… aber nichts… Ich habe Adresse und Telefonnummer angegeben. Aber da war mir schon klar, dass ich das Ding nicht wieder sehen würde. Ja, und dann ist mir eingefallen, dass die Nummer der EC-Karte im Portemonnaie steckte. Auf einem Zettel, getarnt als Telefonnummer."
"Oh!" sage ich, schon mit einer gewissen Vorahnung: "Und dann?"
"Dann hab ich richtig Angst gekriegt, meine Bank angerufen und die Karte sperren lassen."
Ich lächele ihr zu, als wollte ich sagen: Noch mal Glück im Unglück gehabt. Aber die Kleine verzieht keine Miene über ihr Glück im Unglück.
"1500 Euro waren abgebucht. Alles was drauf war und der Überziehungskredit bis zum Anschlag. Alles weg."
Ich sehe das Nasse in ihren Augen. Doch das Blau hat nichts von seiner Strahlkraft verloren. Ein klares Glänzen ist hervorgetreten, als hätte sie winzigkleine Scheibenwischer bedient.
Ich schlucke betroffen: "Ich hoffe, man kriegt das Schwein!"
"Hoffe ich auch. Aber solange bin ich erst mal pleite. Ich werde nicht gleich verhungern oder so… nur, für die Reparatur…"
"Hm. Verstehe. Und wie stellen Sie sich das vor? Ich meine, ich hab meine festen Kosten, ich muss das Material bezahlen und die Pacht und meine Mitarbeiter…"
Die Standardklage aller Geschäftsleute. Ich erwarte jetzt eigentlich einen Appell an mein soziales Gewissen. Die Fiestafrau wischt kurz mit einer Fingerspitze in den Augenwinkeln rum. Ich bin gespannt, was jetzt kommt.
"Deshalb bin ich ja hier. Haben Sie eine Homepage für Ihre Tankstelle?"
"Eine Homepage?"
Es muss so klingen, als hätte ich noch nie etwas von Internet und ISDN und Flatrate gehört. Sie schaut mich mit einem sehr seltsamen Blick an.
"Das Internet wird für Geschäftsleute immer wichtiger. Auch für Tankstellen und Autowerkstätten. Und wenn Sie da nicht dabei sind…"
"Wo dabei?"
"Wenn man Autowerkstatt + Kessel in eine Suchmaschine eingibt."
"Und Sie wollen das für mich ändern? Können Sie das denn?"
"Klar kann ich das!" Sie stößt sich mit ihrem Fuß von der Wagentür ab. Ich kriege die spitzen Zähne zu sehen. "Haben Sie sich eine Domän gesichert?"
"Was meinen Sie?" frage ich vorsichtshalber.
"Ihren Namen im Web. Die Adresse, wo man Sie finden kann."
Ich schicke ein Lächeln vor: "Wenn man ‚Autowerkstatt + Kessel' eingibt?"
"Wie heißen Sie?" fragt sie ernst: "Hämpken, ja? Und wie noch? Hans, nicht?"
"Ja", sage ich und mir geht wie von selbst durch den Kopf: ‚Was Hänschen nicht lernt...'
"Also Hans Hämpken." Ich sehe förmlich, wie sich der Name hinter ihrer Stirn digitalisiert. "Man müsste prüfen, ob die Domän noch frei ist. Was halten Sie von Blo-Tankstelle-Hans-Hämpken?"
"Blo-Tankstelle-Hans-Hämpken?"
Es ist, als hätte ich das zum ersten Mal gehört und nicht selbst unzählige Male ins Telefon gesagt.
"Und dann?"
"Dann mache ich Ihnen eine 1a-Webseite. Nichts von der Stange. Sie sagen mir, was Sie wollen und ich stelle es Ihnen ins Netz."
"Und was soll das kosten?"
Ihr schönstes Flash-Lächeln: "Nicht mehr als die Reparatur!"
"Oh." Das mag abweisend klingen. Aber im Grunde gefällt mir die Idee nicht schlecht: "Wie stellen Sie sich das praktisch vor?" frage ich, unsicher, ob das dicke Ende nicht noch kommt.
Ein kalter Wind wischt erneut unters Dach der Tankstelle, gefolgt vom Klappern einer Metallbahn. Ich schicke einen kurzen resignierten Blick hinauf. Ich repariere zwar alles Mögliche für Kunden, aber für die nötigsten Handgriffe hier oder zu Hause fehlt die Zeit.
"Wir setzen uns bei Gelegenheit zusammen, und ich erzähle Ihnen, was man so machen kann. Übrigens, ich heiße Rosche. Franzi Rosche."
Ich nicke zweimal, wie zum Einverständnis. "Haben Sie denn Erfahrung mit so was?"
"Kein festes Büro, wenn Sie das meinen. Ich mache das nebenher."
"Nebenher von was?"
"Oh, ich hab mal in einem Werbebüro gearbeitet. Aber seit ich meinen Sohn habe..."
"Verstehe." Allerdings habe ich keine Ahnung, wie wir das hier zu einem Abschluss bringen sollen: "Wie soll ich wissen, ob das was Seriöses ist?"
"Sehe ich irgendwie unseriös aus?" Die blauen Augen blitzen gefährlich: "Bin ich eine Zockerin, die nichts Besseres zu tun hat, als abends durch die Gegend zu kurven, um Leute zu bescheißen?"
Viel fehlt nicht und sie springt mir ins Gesicht. Doch das imponiert mir. Jedenfalls solange Franzi Rosche auch meine Sorgen ernst nimmt. Im Tagesanzeiger hieß es, dass sich die Wirtschaftskriminalität in den letzten Jahren mehr als verdoppelt hat.
"Also?" fragt Franzi Rosche, schon wieder sanfter: "Sie bringen meinen Wagen durch diesen Scheiß TÜV, und ich zeige Ihnen vorher noch, was ich kann: Fair?"
"Fair!" sage ich, weil ich mir wünsche, dass es am Ende so sein wird. "Allerdings habe ich im Büro nur einen ziemlich klapprigen PC."
Ich verschweige dabei, dass bei uns zu Hause der Pentium II wartet. Markus war der alte Computer für seine Chats, Clips und Online-Spiele zu fuzzy. Ich stelle es mir freilich als nicht so prickelnd vor, dort mit Marianne und den Kindern im Rücken die Fähigkeiten von Franzi Rosche abzuchecken.
"Ich kann Ihnen auch bei mir was zeigen", sagt Franzi Rosche. "Wenn Sie die Unordnung nicht stört und mein Sohn..."
"Nein nein! Kein Problem."
"Und wann?"
Mir wird bewusst, dass ich gar keine Zeit habe, mir außer der Reihe was zeigen zu lassen. Jedenfalls nicht in dieser Woche und auch nicht nächste. Die beruhigende Einheit von Leistung und Gegenleistung driftet schon auseinander. Das Ganze ist meilenweit von ‚Reparaturen nur gegen Bar!' entfernt. Ich habe auch keinen Schimmer, wie ich Marianne erklären sollte, warum ich diesen Ausgleich für eine umfangreiche Reparatur zulasse.
Aber im Grunde bin ich zufrieden. Mit einem entspannten Lächeln schiebe ich meine nie ganz saubere Rechte vor: "Also, in dieser Woche wird das nichts mehr bei mir. Ich schlage vor, ich gucke erst einmal, wie das mit Ihrem Wagen aussieht, und wir geben uns die Hand drauf, dass am Ende keiner von uns als der Dumme dasteht. Okay?"
Ich kann auf die kurze Distanz fast ein Stück weit bis hinter die Krümmung ihrer Augäpfel sehen. An dem leichten Flackern - wie bei einem nicht störungsfrei empfangenen elektromagnetischen Impuls -, erkenne ich, dass sie meine Reaktion so nicht erwartet hat. Sie schickt mir nicht das knallige Flash-Lächeln zur Antwort, sondern erlaubt ihren Mundwinkeln nur ein schüchternes Zucken: "Sie sind nett. Danke."
Dann spüre ich etwas Weiches, Zartes, Warmes in meiner Hand. Und obwohl ich das nicht gut ertragen kann ("Du hast ein Problem mit der Nähe, alter Junge!"), behalte ich ihre Hand in meiner und drücke ziemlich fest zu. Kein Mucks von ihr, keine Regung, bis wir uns lösen, umfassend berührt, wie von einem Blitz auf freiem Feld. Franzi Rosche wirft mir einen letzten Blick zu und fährt dann vom Gelände meiner Blo-Tankstelle, als hätte sie ein ganz normales Geschäft mit mir gemacht.

(...)

 

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