Das Golfprojekt



 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[Manchmal schwebte beim Aufwachen dieser feine Klang noch durch sein Zimmer.]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[Jetzt standen sie rum und warteten darauf, dass es endlich losging. Ihm war schon ganz schlecht.]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[Da hatte er das Wort Endstadium aufgeschnappt. Und es hatte ihm gleich gefallen und ihm Hoffnung gemacht]



Golfgeschichten

 

 

Die Platzreife

 

In letzter Zeit träumte Marti manchmal von Golf. Nicht von superlangen Drives, wie sie seinem Pa ab und zu gelangen. Nein, von irgendwelchem doofen Ballsuchen im Rough, wo das Gras so hoch gewachsen war, dass es ihn weit überragte. Der Traum war absolut nicht cool, denn er verirrte sich auf dieser Suche und wusste bald nicht mehr, was er tun sollte. Auch gab es in diesem Traum keine Flightpartner und keinen Jimmy, die er hätte fragen können, wie er zurück aufs Fairway kommen sollte. Irgendwann hörte er dann von ganz weit einen blanken, hellen Knall, wie er entstand, wenn sein Pa mit dem Driver gut getroffen hatte.
Danach wachte er gewöhnlich auf: Den Kopf mit dem wirren Schlafhaar noch tief im Kissen, die Augen schon weit geöffnet, als könnte man nur mit weit aufgerissenen Augen etwas hören, was nahezu unhörbar war. Denn der Klang des Drivers war nicht das Geräusch, dem er im Aufwachen nachspürte. Vielmehr war es der feine Klang eines kurzen Putts, von dem Jimmy sagte: "Hört genau hin, dann wisst ihr gleich, ob ihr mit dem Putter richtig getroffen habt. Es ist nur ein Tap-in!"
Manchmal schwebte beim Aufwachen dieser feine Klang noch durch sein Zimmer.

Marti schaute jetzt lieber noch mal, ob er auch alles dabei hatte. Jimmy würde sich bestimmt die Pitchgabel zeigen lassen. Selbst von Jenny, wo die doch sein Liebling war. Immer durfte sie da abschlagen, wo die Bälle schön obenauf lagen. Dass man sie gleich super in die Luft kriegte, wusch und zisch. Marti hingegen musste oft von der platt getretenen Erde schlagen. Dann tat es fies weh, wenn man in den Boden hackte. Und das passierte ihm noch ziemlich oft.
Er war acht Jahre alt und spielte seit zwei Jahren Golf. Er versuchte es wirklich. Und Jimmy hatte gesagt, dass er schon recht gut war. Jimmy war ihr Trainer. Seiner und für Clara, Fritz, Annette, Michael, Tobias, Grace, Jenny und die anderen. Es waren an die zwanzig Kinder, die sich zum Kids Club-Turnier gemeldet hatten.
Diesmal würden sie nicht nur zum Üben auf den kleinen Platz gehen. Und diesmal musste er es schaffen mit der Platzreife. Denn sein Pa hatte gesagt, er würde dann nach Hause kommen und mit ihm den großen Platz spielen.
Sein Pa war nämlich im Krankenhaus.
Deshalb musste Marti auch die Platzreife schaffen.
"Logo!" hatte Fritz dazu gesagt, der sein bester Kumpel war: "Voll logo!"
Aber außer dem Fritz hatte er es niemandem erzählt.
Weil's doch eine Überraschung sein sollte.
Vor allem für die Mama, die viel geweint hatte in der letzten Zeit. Immer hatte sie geweint. Einfach so. Beim Kochen von Griesbrei. Oder beim Schlafengehen. Da sogar ganz doll. Beim Kochen hatte sie einmal gesagt, dass sie Zwiebel in die Augen gekriegt hätte. Aber er war ja nicht dumm. Beim Griesbrei gab's gar keine Zwiebel.
Er hatte es nicht mal dem Jimmy erzählt. Nur dem Fritz. Weil der Jimmy beim letzten Training zu ihnen gesagt hatte: "Ihr macht nächste Woche die Platzreife. Der Fritz und du. Für den großen Platz."
Und dann hatte er ihnen noch einmal alles genau erklärt. Als wären sie so Fuzzies! Er hatte ihnen die Scorekarte gezeigt, die für den kleinen Platz. Und Marti musste mit dem Finger drauf tippen, wo die Spalte für den Zähler und Fritz musste mit dem Finger drauf tippen, wo die für einen selbst war. Und sagen wie viele Schläge sie höchstens haben durften. Und dann fragte er noch: "Was ist, wenn ihr alle Schläge für ein Loch verbraucht habt?"
Das hatte er schon oft gefragt.
Deshalb hatte Marti es auch gleich gewusst: "Dann muss man den Ball aufheben."
Und der Fritz hatte gerufen: "Weil wir Stableford spielen."
Aber der Jimmy hatte dumm getan und gefragt: "Was ist denn Stableford?" Da wollte der Fritz wieder antworten, doch der Jimmy hatte gleich gesagt: "Nein, der Marti soll das sagen! Der weiß das, nicht wahr, Marti?"
Und er hatte ihm kräftig auf die Schulter geklopft. Da hatte Marti gesagt: "Stableford heißt, dass man für jedes Loch nur eine bestimmte Zahl von Schlägen hat und wenn die aufgebraucht sind, wird das Loch einfach gestrichen. Also man muss nicht alle Schläge zu seinem Score zählen. Das kann cool sein. Aber gut spielen muss man trotzdem."

Jetzt standen sie rum und warteten darauf, dass es endlich losging. Ihm war schon ganz schlecht. Er hatte am Morgen auch nichts essen können, obwohl ihm seine Mama den Griesbrei gekocht hatte, den er so gerne aß.
Eigentlich glaubte er nicht, dass er das heute schaffte.
Obwohl: Genug Bälle hatte er. Er hatte sie auch mit seinem magischen Zeichen bemalt. Denn Jimmy hatte gesagt: "Jeder Ball muss ein magisches Zeichen haben!"
Marti kannte auch den Grund dafür: Damit man wusste: Der gehört zu mir. Den darf ich nicht verlieren. Auf keinen Fall. Der soll super weit fliegen, aber immer nur geradeaus. Wie am Schnürchen gezogen. Immer geradeaus.
Deshalb war so ein Golfball magisch.
Sein magisches Zeichen war ein blauer Kreis mit einem M drin. Er hatte fünf oder sechs Bälle davon in seinem Bag. Zur Vorsicht, falls er doch mal einen verlor.
Denn Jimmy hatte gesagt: "Manchmal funktioniert die Magie nicht. Da kann man machen, was man will."
Jimmy war vor vielen Jahren aus Irland gekommen.
"Irland ist eine enorm große Insel", hatte er ihnen erzählt: "mit viel Magie, gerade was Golfbälle angeht."
Damals war er schon Golf Professional gewesen. Also musste er es wissen.
Als Trainer konnte er ziemlich streng sein. Wenn er 'Fore!' rief, dann mussten sie ruhig sein und zuhören. Und wenn ein paar Unsinn machten, rief er noch einmal 'Fore!'. Und wenn die immer noch Unsinn machten, gab's einen Platzverweis. Dann sagte Jimmy ihnen, sie könnten gehen.
Und manchmal, wenn sie auf dem Platz irgendeinen Scheiß machten und an nichts Böses dachten, hatte Jimmy es irgendwie doch gesehen. So als hätte er Adleraugen. Aber dafür war er ja auch ein Pro.
"Ein guter Pro", hatte er einmal gesagt, "muss alles sehen. Sonst ist er sein Geld nicht wert."
Ein anderes Mal hatte er ihnen was vorgelesen, über die wichtigste Golfregel überhaupt. Die Überschrift war auf Englisch. Deshalb hatte Marti nichts verstanden. Fritz hatte auch nichts verstanden. Nur die Grace. Weil deren Eltern aus Amerika waren. Da verstand man so was. Das hatte sich angehört wie ‚sspritofsgehm'.
Oder so. Das war was, wie man sich verhalten musste, wenn man die Platzreife kriegen wollte. Und natürlich, wenn man sie schon hatte.
Man durfte nämlich nicht schummeln.
"Das ist das Wichtigste", hatte der Jimmy gesagt, "weil man ja gegen sich selbst spielt."
Und wenn man dabei schummelte, war man kein ehrlicher Kerl mehr. Oder kein ehrliches girl. Das hieß Mädchen. Deshalb musste jeder Ball gespielt werden wie er lag. Auch wenn er ganz doof lag.
"Das ist eben Golf", hatte der Jimmy gesagt. "Und wer sich da nicht dran hält, den will ich nicht in meinem Training haben."
Da hatten sie alle erschrocken aufgeguckt. Auch die Grace und der Tobias, die schon die Platzreife hatten.
Jimmy war ziemlich groß. Noch ein Stück größer als sein Pa. Weil er soviel draußen war, hatte er ein rotes Gesicht von der Sonne. Und darüber eine super hohe Stirn. Er hatte immer dunkle Hosen an und ein weißes Polohemd. Auf dem stand vorne drauf: Jim McGovern. Und darunter: PGA. Das hieß, dass er ein richtiger Profi war. Deshalb konnte er auch so gut erklären. Aber noch besser konnte er was vormachen. Und noch nie hatte man ihn mit dreckigen Golfschuhen gesehen. Grace hatte von ihrer Mutter gehört, dass er sie jeden Tag putzte.
Jimmy machte auch andere Sachen mit ihnen. Andere als Golf. Zum Beispiel Fußball. Oder ein Lagerfeuer, gleich neben dem Wasserhindernis von Loch 2. Sie hatten in der Asche Kartoffeln geröstet, und er hatte ihnen Geschichten von magischen Golfbällen erzählt.
Da war sein Pa noch mit dabei gewesen. Zwei Tage später musste er ins Krankenhaus. Mit Rettungswagen und Sirene. Und seitdem war er dort.
Seine Mama hatte ihn seitdem oft in die Arme genommen, ganz fest gedrückt und gesagt: "Das mit unserem Pa, das ist schlimm, Marti. Aber das wird schon wieder."
Und sie musste es ja wissen, denn sie hatte mit vielen Ärzten gesprochen. Beim letzten Mal hatte Marti noch lange warten müssen, weil sie mit einem bestimmten Arzt reden wollte. Da hatte er das Wort Endstadium aufgeschnappt. Und es hatte ihm gleich gefallen, denn es hatte ihm Hoffnung gemacht, dass die Zeit ohne seinen Pa jetzt bald vorbei war. Dann würde er mit ihm spielen.
Er musste nur noch die Platzreife machen.
Das magische Zeichen seines Pas war ein schwarzer Kreis mit einem P. Das stand nicht für Pa, sondern für Patrick. Der Bauch hatte ihm oft wehgetan. Die Mama hatte dann gesagt: "Das ist der blöde Stress."
Und der Pa hatte immer geantwortet: "Da kann man nichts machen - nur Golf spielen. Das ist die beste Medizin für mich."
Und er hatte lustig dabei gelacht, weil die Mama manchmal schimpfte, dass er zu oft auf dem Golfplatz war und zu lange.
Die Mama spielte nämlich kein Golf.

Ein paar Bienen schwirrten jetzt um Grace' Kopf. Gerade als sie putten wollte. Sie ließ den Schläger fallen und fuchtelte wild mit den Armen herum. Ihr schwarzes Haar war zu einem Zopf geflochten, mit einem weißen Schmuckband, dessen Enden ein wenig flatterten.
"Mund zu!" rief der Fritz. "Mund zu!"
So schwirrten die Bienen schon seit Tagen durch die Gegend. Vielleicht waren es auch Wespen. Jedenfalls stachen die einen und die anderen nicht. Das hatten sie mal im Kindergarten erzählt bekommen, aber er hatte es sich nicht merken können. Und auch nicht, was was war.
Jimmy hatte gesagt, sie sollten nicht nach den Bienen schlagen und gut aufpassen, wenn sie was aßen oder tranken.
Es waren wirklich viele. Ständig musste man sich umgucken.
Endlich stellte sich die Grace wieder ordentlich hin: "Die haben sich auch zum Kids-Club-Turnier angemeldet!" sagte sie.
Aber keiner lachte. Auch Marti nicht. Wäre sein Pa dabei gewesen, er hätte die Bienen bestimmt verjagt. Außerdem hätte er sein Superkurzplatz- vorbereitungstraining mit ihm gemacht. Aber er war ja nicht hier.

"Weißt du, Marti", hatte sein Pa beim letzten Mal gesagt: "wenn du die Platzreife hast, bin ich so superstolz auf dich, dass ich einfach aus diesem blöden Krankenhaus raus marschier. Und dann spielen wir beide eine Runde auf dem großen Platz. Nur wir beide."
Marti hatte ihn groß angeguckt. Seine Mama hatte den Kopf geschüttelt und mit merkwürdiger Stimme gesagt: "Erzähl dem Jungen nicht so was, Patrick, sonst glaubt er das noch."
"Das soll er auch!" hatte sein Pa gerufen und den Arm nach ihm ausgestreckt.
Marti war etwas näher an das Krankenbett heran gerückt. In das Bett führten Schläuche und auf der anderen Seite führten andere Schläuche wieder heraus. Sein Pa war immer irgendwie alt für ihn gewesen. Aber jetzt sah er so alt aus, wie die Menschen in manchen Filmen oder Geschichten, die superschnell alt wurden. Und mager.
Marti wusste nicht genau, warum das so war. Vielleicht lag das an der Medizin. Die machte nämlich auch, dass der Vater keine Haare mehr hatte. Kein einziges. Marti wusste nicht, wozu das gut sein sollte. Der Vater hatte zwar schon vorher nicht so viele Haare auf dem Kopf gehabt, aber jetzt hatte er gar keine mehr.
Das alles war ihm unheimlich.
Die Mama hatte ihm zwar erklärt, was das für eine Krankheit war. Aber er dachte nicht gerne daran. Er hatte auch niemandem in der Schule davon erzählt.

Nur dem Fritz, weil der sein bester Kumpel war.
Im Krankenhaus hatte seine Mama sich weggedreht. Vielleicht weinte sie wieder. Marti verstand das nicht. Warum hörte sie nicht langsam auf mit dem Weinen? Wenn er die Platzreife hatte, würde ihr Pa die Schläuche und diese Maschinen nicht mehr brauchen, weil er mit ihm Golf spielte, so lange, bis er wieder gesund war. Sein Pa war jetzt im Endstadium. Er wartete nur noch auf ihn.
In seinem Flight waren der Fritz und die Grace und die Sabine. Er zählte die Grace, die Grace zählte die Sabine, die Sabine Fritz und Fritz ihn. Zwei Löcher hatten sie schon gespielt und ziemlich lange dafür gebraucht. Dabei hatte Jimmy ihnen die Zeiten auf die Scorekarte geschrieben: 12 Uhr startete der erste Flight. 12.10 hatte ihrer abgeschlagen. Und dann hatten sie für jede der neun Bahnen zwischen 10 und 20 Minuten. 12.40 sollten sie eigentlich an der Drei abschlagen. Aber sie hatten suchen müssen. Vor allem wegen ihm.
Er hatte am Abschlag der Eins den Ball getoppt. Drei Meter war er gehoppelt. Wie ein Hase. Nicht mal vom Abschlag runter. Die anderen hatten weggeguckt, als sie sich 'Schönes Spiel!' wünschten. Der zweite Schlag war viel besser gewesen, weil er sich ganz doll konzentriert hatte.

 

"Auf die Stelle schauen, wo der Ball ist", hatte der Jimmy immer gesagt, "auch noch wenn er schon längst weg ist."
Aber dann war der Ball so weit geflogen, dass er bis in den Bunker gerollt war. Unter die Kante.
"Das ist Golf!" sagte Jimmy bei so was: "Also macht was draus."
Aber so ein Schlag war sauschwer. Wahrscheinlich der schwerste überhaupt. Und das heute.
Als sie dann am Bunker waren, zog Marti zuerst den Rechen näher heran, so wie sie es gelernt hatten. Der Sand sah eklig grau aus und fest gepappt. So blöd wie der Ball lag, konnte man nicht im Bunker stehen. Es ging nur, wenn er mit einem Bein drinnen und einem draußen war.
Die Kante war so hoch, dass die Grace rief: "Spiel zur Seite raus!"
Dabei durfte die das gar nicht: ihm etwas raten.
Er hatte er trotzdem versucht. Hatte aber auch nicht geklappt. Drei Schläge hatte er gebraucht, aus dem doofen Bunker, bis er endlich auf dem Grün war. Danach harkte er den Sand, bis er seine Spuren einigermaßen beseitigt hatte. Das musste man, auch wenn es ein Kack-Bunker war. Das war Etikette.

Der Ball lag jetzt drei oder vier Putterlängen hinter der Fahne. Marti hockte sich hin und schaute sich die Puttlinie an. Dann stellte er sich an den Ball, wie sie es bei Jimmy gelernt hatten. Seine Hände legten sich um den Griff des Putters. Der Ball unter ihm schien jetzt so weit entfernt, dass er ihn gar nicht mehr genau erkennen konnte.
"Der Brake geht von rechts nach links!" sagte er leise zu sich selbst.
Oder ging er doch von links nach rechts? Oder gab es gar keinen? Er merkte, wie seine Hände schwitzten und sich allmählich verkrampften. Wie sollte er bloß den Ball treffen?
"Nur die Schultern und die Arme." Jimmy hatte sie hundertmal ermahnt. "Nicht die Hände!"
Eigentlich hätte er noch einmal einen Schritt zurück müssen, um ein paar Probeschwünge zu machen.
Stattdessen zuckten die Hände in Richtung Ziel. Der Ball schoss auf und davon und blieb fast so weit hinter dem Loch liegen, wie er eben noch vor dem Loch gewesen war.
"Oh!" rief der Fritz.
"Uups!" machte die Grace.
Dann sagten sie nichts mehr, sondern putteten ihre Bälle ein, die viel näher lagen.
Heute fielen seine Putts nicht. Soviel war klar. Ausgerechnet heute. Am liebsten hätte er den Putter aufs Grün geknallt. Aber das war verboten. Auch das war Etikette. Und Jimmy war mit seinem Flitzomobil auf dem Platz unterwegs und ging von Flight zu Flight, um sich anzuschauen, wie sie spielten. Fünf Flights. Auch von Ferne konnte man ihn gut erkennen, wegen seiner Schritte, die so riesig weit ausholten.
Marti brauchte für die zwei Meter zurück noch einmal zwei Putts. Das Loch konnte er streichen. Dabei durfte er heute eigentlich kein Loch streichen.
Als er zurück zu seinem Trolley marschierte, versuchte er dennoch seinem Gang etwas Wiegendes, Zuversichtliches zu geben. Das hatte er sich von Jimmy abgeschaut. Nur seinen Kopf schob er ein wenig tiefer zwischen die Schultern. Den Putter knallte er in das gelbe Kinderbag, das er bekommen hatte, nachdem sein Vater ihn im Kids Club angemeldet hatte. Fünf Schläger waren da drin. Das Holz 5 mit dem dicken Metallkopf ragte als längster hervor.

Loch zwei war noch schlimmer. Denn da war das Wasserhindernis. Frontal. Und er hatte den zweiten Schlag genau reingeknallt.

Wo doch jeder wusste, dass da ein Wasserhindernis war. Sogar ein Blinder mit nem Krückstock: weil die Frösche dort so viel Lärm machten, dass es schon nervte. Der Ball war im Schilf verschwunden. Keine Spur.
"Was nun?" hatte der Jimmy dann immer gefragt.
Und der ganze Kids Club antwortete im Chor:
"Die Wasserhindernisregel!"
Also hatte er einen neuen Ball gedroppt. Der Jimmy hatte ihnen genau gezeigt, wie das die Profis machten: Man musste den Schnittpunkt bestimmen. Das war, wo der Ball über die Grenze zum Wasserhindernis drüber war. Die Linie musste man sich aber denken, weil da nur ein paar gelbe Pfosten standen, alle zehn Meter oder so. Und dann dachte man sich vom Schnittpunkt zur Fahne eine Linie. Doch die durfte man nicht vor, sondern immer nur zurück. Soweit man wollte, aber nicht weiter als von wo man geschlagen hatte. Und dann musste man den neuen Ball fallen lassen. Mit ausgestrecktem Arm.
Der Jimmy hatte ihnen alles genau gezeigt.
Weil, wenn schon, dann sollte man es auch richtig machen. Und dafür, dass man das überhaupt durfte, also wieder aus dem Wasserhindernis raus, kriegte man noch einen Strafschlag obendrauf. Es gab aber auch genug Sachen, da kriegte man zwei Strafschläge.
Dann lag der Ball endlich wieder auf dem Fairway, und er hatte noch dreißig Meter oder so bis aufs Grün. Aber das Kack-Wasserhindernis war immer noch vor seiner Nase. Und er hatte den Ball wieder rein gehauen!
So doof war er. So doof.
Und da konnte er das Loch auch noch streichen.
Sie mussten neun Löcher im Kids Club-Turnier spielen. Wenn man zwei strich, wurde es schon knapp mit der Platzreife. "Da muss ein Par her!" hatte der Jimmy mal gesagt. "Oder ein Birdy!"
Aber Marti hatte noch nie ein Par oder ein Birdy gespielt. Das war nämlich sehr schwer. Oder man brauchte super viel Glück. Und irgendwie hatte er kein Glück heute. Der Fritz hatte die ersten Löcher mit 5 und 6 gespielt. Und die Grace sogar mit 5 und 5.

Und jetzt das Loch drei.
Der Boden war so knochentrocken, dass Marti kaum sein Tee rein bekam. Es hatte wenig geregnet in der letzten Zeit. Den Ball drauf. Und nun das, was vor dem Schlag kam, so wie Jimmy ihnen das gezeigt hatte: Das musste man immer gleich machen.
Marti ging zwei Meter zurück, hinter den Ball, um genau zu gucken, wo er hin wollte. Nicht in die Büsche jedenfalls. Und nicht ins Rübenfeld. Bloß nicht. Nicht über die Auslinie! 102 m. Fahne vorne links. Davor wieder so ein Kack-Bunker. Konnte man alles deutlich sehen. Er hatte gute Augen. Bessere sogar als sein Pa.
"Die Fahnen sind nicht einfach gesteckt heute", hatte der Jimmy gesagt. "Schließlich ist Kids Club-Turnier."
Jimmy hatte auch gesagt, dass er die Platzreife schaffen würde. Die Grace hatte das auch gesagt. Und der Fritz sowieso.
Als er dann ausholte und abschlug, hatte er kein schlechtes Gefühl. Es machte sogar Ping, als sein Fünferholz den Ball vom Tee fegte. Jimmy hatte einmal gesagt: "Ihr seid dann so schnell wie auf der Autobahn."
So schnell, dass man nichts mehr ändern konnte. Überhaupt nichts. Wie eingefroren stand Marti nach dem Schlag und schaute seinem Ball hinterher. Lieber Gott! dachte er. Lieber lieber Gott, mach, dass er nicht ins Aus geht. Mach, dass ich die Platzreife kriege. Mach, dass mein Pa aus dem Krankenhaus kann, um mit mir zu spielen. Lieber lieber Gott!
Aber nach etwa sechzig Metern drehte der Ball energisch nach links, schlug einmal hart auf und sprang dann dorthin, wo das Rough in das Rübenfeld überging und die Ausgrenze verlief. Wie ein Hase, der Deckung suchte. Es gab hier super viele Hasen.
Der Fritz rief gleich: "Den finden wir!"
Und die Grace legte Marti für einen Moment die Hand auf die Schulter: "Der ist bestimmt nicht im Aus."
Er schaute ihr dankbar nach, als sie loszog. Sie hatten alle vor ihm abgeschlagen. Schließlich hatte er am letzten Loch wieder das schlechteste Ergebnis gehabt. Da war nichts mit Ehre. Keine Spur.
Mit gesenktem Kopf ging er hinter den anderen her. Er war jetzt völlig mutlos. Die Bälle der anderen lagen hübsch übersichtlich auf dem Fairway. Grace' Ball war wieder der längste. Grace spielte schon Holz 3. Aber das kam von ihrer Ma. Die hatte ihr das gezeigt.
Er betrat den Streifen Rough mit dem kniehohen, zähen Gras, das das Fairway von dem riesigen Rübenfeld trennte. Zu seiner Verwunderung entdeckte Marti seinen Ball sofort. Er war über die Ausgrenze gerollt und lag in einer Erdfurche vor der ersten Rübenreihe.
Das war's! Zurück zum Abschlag und noch ein Strafschlag obendrauf. Jetzt war's vorbei.
Aus irgendeinem Grund zog er trotzdem sein Sandwedge aus dem Bag und marschierte los. Fritz war nur ein paar Meter hinter ihm. Er hatte den Ball auch gesehen. Grace und Sabine waren bei ihren Bällen geblieben. Drüben an Loch 2 fuhr eben Jimmy los, mit seinem Flitzomobil.
Marti stellte sich neben seinen Ball und musste gleich ein paar von den doofen Bienen abwehren. Der Ball lag nur einen Fuß breit hinter der Ausgrenze. Aber der Jimmy hatte gesagt: "Wer mogelt, wird disqualifiziert! Und wer ihm dabei hilft, auch."
Marti schaute auf seinen Ball und von da zu Fritz. Dann schaute er wieder auf den Ball. Hatte der Fritz nicht genickt? Ein klein wenig nur.

Als Jimmy mit ihnen auf dem Weg zum Clubhaus war, hielt er sein Flitzomobil noch mal am Rand des Fairways an. "Zeig mal deine Hand", sagte er zu Marti. Man konnte deutlich sehen, dass Martis rechte Hand stark angeschwollen war. "He Boy! Ist das etwa ein Bienenstich?"
Doch Marti schaute angestrengt auf den Boden des Flitzomobils und zuckte achtlos mit den Achseln. Dabei tat seine Hand höllisch weh. Die Biene hatte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger erwischt.
Aber der Fritz antwortete für ihn: "Ich hab sie noch gesehen, Jimmy, da..." Er zeigte ungefähr auf die Stelle an der Ausgrenze, wo der Trainer sie zur Rede gestellt hatte. "Als die Scheißbiene ihn gestochen hat, hat der Marti laut: "Au!" gerufen und ist so doll zusammengezuckt, dass der Ball davongeflogen ist. Einfach so."
Jimmy schien einen Moment lang nachzudenken: "Mm, dann war es so eine blöde Biene und du hast gar nicht gemogelt? Warum hast du das nicht gleich gesagt, Marti?"
Wieder zuckte Marti mit den Achseln. Er schob die kleine Faust, die rot und heiß war und wie Feuer brannte, in die Hosentasche.
"Verstehe", sagte Jimmy ruhig. "Das war ein blöder Zufall, für den du nichts kannst, Marti." Er schaute ihn aufmerksam an. Marti ließ den Kopf hängen: Jimmy sollte nicht sehen, wie er mit den Tränen kämpfte. "Dann kann ich euch natürlich nicht disqualifizieren. Nur, wie's ausschaut, kann der Marti nicht weiterspielen. Zeig mal deine Scorekarte, Marti."
Marti zog geräuschvoll die Nase hoch. Er hatte jetzt einen knallroten Kopf. Mit der Linken kramte er die Karte aus seiner Gesäßtasche.
Jimmy warf nur einen kurzen Blick darauf. "Das war ja noch nicht berauschend! Aber wenn einen die Bienen auch so verrückt machen, was Marti! Wenn du mit deinem Vater spielst, zeigt der dir sicher noch das eine oder andere. - Was meinst du?"
Marti zog die schmerzende Hand aus seiner Hosentasche. "Heißt das", fragte er leise und ohne aufzugucken: "ich hab die Platzreife? Richtig, für den großen Platz?"
Statt einer Antwort lächelte Jimmy über sein rotes Gesicht und schlug ihm leicht auf die Schulter. Dann setzte er das Flitzomobil wieder in Gang: "Aber jetzt verarzten wir dich erst mal!"

Am nächsten Mittwoch kam sein Pa aus dem Krankenhaus, wie er es versprochen hatte. Am Samstagnachmittag gingen die zwei auf ihre erste gemeinsame Runde über den großen 18-Loch-Platz. Die Sonne schien warm, aber nicht heiß, sodass es recht angenehm war. Irgendwie fühlte sich Marti den ganzen Tag über größer und älter. Zugleich war er total aufgeregt und schlug gleich den ersten Ball links in die Baumreihe neben dem Abschlag, sodass er verloren war. Aber sein Pa sagte: "Das ist gar nicht schlimm, Marti. Hauptsache, wir spielen endlich zusammen!"
Marti ärgerte sich trotzdem wegen des doofen Abschlags. Aber sein Pa zog ihn an sich und drückte ihn wie seit langem nicht mehr.
Marti wurde ganz verlegen.
Auf der Runde machten sie nicht viele Worte. Sie hatten "Zur Feier des Tages!", wie sein Pa sagte, ein Flitzomobil gemietet, und fuhren ihren Schlägen hinterher. Marti brauchte viel mehr Schläge als ihm recht war. Die Bahnen waren wirklich furchtbar lang. Viel länger als auf dem Kurzplatz. Aber es war voll cool, sie mit seinem Pa zu spielen.
Dann, nach neun Löchern, sagte der Vater, dass er ziemlich müde sei und lieber aufhören wolle. Damit war auch Martin einverstanden.

Ein paar Tage nach ihrer Runde kam seine Mama schon lange vor der Zeit zur Schule, um ihn abzuholen. Er verstand gar nicht, was das sollte. Fritz rief ihm noch nach: "Vielleicht geht ihr Eis essen!"
Aber seine Mama hatte auf seinen fragenden Blick hin nichts dazu gesagt.
Sein Pa war zu Hause und lag im Bett. Doch irgendwie sah er anders aus, so als läge da nur noch sein Schatten. Er hatte die Augen geschlossen. Vielleicht schlief er ja. Aber dann zuckte seine Hand, die auf dem weißen Bettzeug lag. Und gleich noch einmal.
Plötzlich war Marti ganz komisch zumute. Denn es war jetzt der feine Klang in der Luft, von dem Jimmy sagte: ‚Nur noch ein Tap-In.' Dann sah er, dass der Vater wach war. Es schien, als winke er ihn zu sich. Langsam ging Marti näher ans Bett.
"Marti?"
Er sprach sehr leise.
"Marti?"
"Ja?"
Die Hand zuckte wieder. Marti berührte sie vorsichtig und nun öffnete sie sich langsam. Marti konnte den schwarzen Kreis und das P erkennen. Es war der Ball, den sein Pa gespielt hatte: Ein Strata mit der Zahl 3. Im Licht des Schlafzimmers hatte er eine seltsam bleiche Farbe und fühlte sich kalt an.
Aber auch die Hand seines Pas war bleich und fühlte sich kalt an. Marti nahm den Ball in seine Hand und umschloss ihn, soweit es ihm möglich war. Obwohl es schon einige Zeit her war, schmerzte jetzt die Stelle wieder, wo ihn die Biene gestochen hatte, und wurde auch ein wenig rot und warm.

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mosaik