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Die
Welt erkunden
Ein
literarischer Reiseführer

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Viele
meiner Geschichten spielen außerhalb Deutschlands, obwohl ich mich
als Autor verstehe, der die deutschen Zustände im Sinn hat. Warum
also? Ich bin in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen
und habe eine Art 'Bildungsaufstieg' versucht - nicht zuletzt, um mich
von dieser Herkunft zu lösen. Mittlerweile weiß ich, dass das
nicht so leicht möglich ist und dass man vermutlich besser fährt,
wenn man das vorhandene Erbe akzeptiert. Im Ganzen gesehen ein langer
und mühsamer Prozess, der vermutlich nie ganz abgeschlossen sein
wird.
Aber was hat das mit meiner heutigen Art der Welterkundung
zu tun?
Ich glaube, ich habe meine Figuren nach Italien oder Irland, nach Nouakchott
oder New York, in den Libanon, nach Paris, nach Südwestafrika und
Medellin und in andere Gegenden geschickt, weil ich in einer gewissen
Welthaltigkeit schon jene Ablösung von kleinbürgerlichen Verhältnissen
garantiert sah - obwohl jeder, der gereist ist, weiß, dass man seine
Herkunft zuverlässig mit sich schleppt.
Eine Leserin schrieb mir, dass die Weltläufigkeit der Erzählungen
nur behauptet sei - und das war verdammt gut erkannt!
Doch habe ich dieses Problem selbst einmal angesprochen: und zwar in der
Geschichte des Mannes, der Nationalfeiertage sammelte. Darüber hinaus
gilt - auch für die Geschichten, die außerhalb Deutschlands
spielen -, dass ich beschreibe, was ich sehen will und dass ich versuche,
der inneren Wahrheit einer Geschichte zu folgen.
(2) Achill Island, Irland
(...)
Achill bestand aus einigen winzigen Dörfern, deren
Häuser, in erbärmlichem Zustand zwar, bisher dem Meer und der
Salzfracht des Ozeans standhielten. Die Häuser waren auf einen Blick
zählbar, außen von schmutzigem Weiß, innen von der ungewissen
Farbe sich übereinanderschiebender Wasserflecken. Ihr Cottage lag
auf einer kleinen Erhebung zwischen zwei Bergen. Es hatte einen Innenhof
und, zu Scherers Erleichterung, um das kleine Grundstück eine Einfriedung
aus hochgewachsenen Fuchsiensträuchern, die in voller Blüte
standen. Durch Schwärme von winzigen, Fleisch fressenden Fliegen
erwiesen sie sich als unpassierbar: den Kindern wurden klare Grenzen gesetzt.
Im Haus gab es eine bescheidene Kücheneinrichtung, die ihn an seine
studentischen Zeiten in Wohngemeinschaften erinnerte, geeignet, Nudeln
zu kochen oder warme Milchund Butterbrote mit Gurkenstückchen zu
bereiten. Es gab ein Bad, durch dessen undichtes Dach im Winter sämtliche
atlantischen Stürme weiblichen Namens gezogen waren, und es gab eine
Reihe von Räumen, von denen sie nach und nach die bewohnbaren für
sich entdeckten.
Mochte
die Vegetation auf Achill Island im allgemeinen auch karg und abweisend
sein -: im fortgeschrittenen Frühling blühten in den geschützteren
Tallagen Ginster und Rhododendron in verschwenderischer Fülle. Überall
leuchteten in der eintönig braunen Heide- und Moorlandschaft die
intensiv-gelben oder blaßlila-farbenen Inseln.
Der größte Teil von Achill war
jedoch von Bergen bedeckt und unfruchtbar. Die Bergrücken lagen kahl
und blieben bei schlechtem Wetter schon in geringer Höhe wolkenverhangen.
Ein beständiger kalter Nordwest hielt das überall wuchernde
Heidekraut niedrig und verfilzte es zu dicken Teppichen. Auf den feuchten
Wiesen des Flachlands wuchsen Binsen zu gewaltigen Nadelkissen heran,
kreisförmige Festungen, die selbst von den allesfressenden Achillschafen
gemieden wurden. In den Ebenen zwischen den Bergen erstreckten sich weite
Hochmoore.
Oft sah man von den schmalen Landstraßen aus einsame Männer
oder Frauen in buntkarierten Hemden, wie sie, tief im Schwarzwasser der
ableitenden Gräben eingesunken, Reihen aus dem Torf stachen, die
irgendwann höher waren als sie selbst.
Die Insel wurde durchschnitten von Hunderten dieser schwarz und speckig
glänzenden Stechkanten. Irgendwann versumpfte der Boden erneut. Doch
bis es soweit war, verschwand dort an den zahllosen nebelverhangenen Tagen
in der ungewissen Tiefe der Brackwasserkanäle der Unrat der Insel.
Zum Trocknen wurden die Torfziegel an den Zufahrtswegen zu kleinen achilleischen
Pyramiden getürmt. In Plastiksäcke verpackt wurde die Ernte
für den nächsten Winter von Traktoren mit doppelter Bereifung
in die umliegenden Dörfer abgefahren. (...)
Der
Weg, den ihnen die alte Frau bezeichnet hatte, führte sie am Saum
einer Steilküste vorbei. Rechts von ihnen breitete sich die weite
Fläche des Ozeans aus. Links, auf der inneren Seite ihres Weges,
glänzte ein kalter Bergsee, in dem Forellen sprangen. In der Ferne
sahen sie am Abhang eines Berges eine Art Ornament, Linien, ähnlich
denen, wie sie der Torfabbau hinterließ. Es konnten aber auch Grenzzäune
oder etwas anderes sein.
Als sie näher herankamen, erkannten sie, daß es sich um die
Überreste einer Siedlung handelte: hundert oder mehr Häuser,
die aus Feldsteinen aufgeschichtet waren. Von den meisten existierten
nur noch Teile der Außenmauern, bei einigen hatte der Türsturz
oder eine Fensteröffnung überdauert, Vorrichtungen für
den Kamin waren erkennbar, Nischen für Vorräte, Schlafstellen.
Die Häuser waren klein und
bestanden in der Regel nur aus einem Raum. Sie waren fast vollständig
von Gräsern, Moos und Flechten überwachsen. Zudem erwies sich
der Boden zwischen den Häusern als unwegsam und sumpfig, weil auch
die Schutzwälle und Entwässerungsgräben zerstört waren.
In kleinen Rinnsalen strömte das Wasser vom Berg hinab und mitten
durch die Ansiedlung. Nur ein paar Ziegen mit zotteligem Fell und gewaltigem
Gehörn kletterten zwischen den Häusern herum. Die Kinder liefen
ihnen ein Stück hinterher.
Bis zur großen Hungersnot, Mitte des 19. Jahrhunderts, als über
mehrere Jahre hinweg die gesamte Kartoffelernte Irlands verdarb, hatten
hier einige Hundert Menschen gelebt. Die Hälfte von ihnen war damals
verhungert, die anderen waren weggezogen, aufs irische Festland oder gleich
in die weite Welt hinaus. Es war das 'Deserted Village', von dem die Lokalgeschichte
erzählte wie von einer besonderen Sehenswürdigkeit. Dabei gab
es in ganz Irland solche verlassenen Dörfer. Und in fast jedem Dorf,
durch das sie kamen, trafen sie auf die Ruinen aufgegebener Häuser,
mal mehr, mal weniger.
Scherer rief die Kinder zu sich. Es war nicht ungefährlich, zwischen
den eingestürzten Häusern herumzuklettern. Die beiden folgten
mißmutig.
- Was ist das hier? fragte Sabine.
Scherer erzählte von der Hungersnot. Aber die Kinder wollten im Grunde
nur wissen, wem die Ziegen gehörten. Als sie weitergingen, fragte
Sabine, warum die Leute damals nichts zu essen hatten. Obwohl Scherer
es ausführlich erklärt hatte, erklärte er es ihnen noch
einmal.
- Kann das auch bei uns passieren? wollte Sabine wissen.
- Bei uns wohl nicht. Aber woanders schon. (...)
aus: Die Piratin.
Erzählung
(1)
Maremma amara - die bittere
(...) Um die Mittagszeit hielt ich in Marina di Grosseto,
einem Badeort an der Küste. Als ich ein Restaurant betrat,
sah ich an einem der Tische Svea. Bei ihr saß ein junger Mann, dem
ersten Blick nach ein Italiener. Da ich nicht wusste, ob ihr eine Begrüßung
recht war, beließ ich es bei einem unauffälligen Nicken. Doch
Svea kam, nach einem kurz aber heftig aufgeflammten Wortwechsel mit diesem
Mann, zu mir an den Tisch.
Wir
redeten nicht viel, tauschten nur ein paar Belanglosigkeiten über
das Wetter und die Küste. Sie nahm meine rechte Hand zwischen ihre
Hände und hielt sie fest, etwas, was ich mir gleich gewünscht,
selbst aber nicht gewagt hatte, zumal Svea gerade noch mit dem Mann zusammengewesen
war. Dann fuhren wir in ein Hotel, um miteinander schlafen zu können.
Den alten Herrn an der Rezption verwirrten wir mit unseren aufgeregten,
gierigen Gesichtern, die ihm ein wenig schuldbewusst und darum albern
kichernd entgegenblickten. Ihre Sachen holten wir später aus einer
Villa, in der sie mit dem Italiener wohnte.
Als
wir in der Nacht wieder atemlos nebeneinanderlagen, fragte Svea, wie es
dieser anderen gehe.
Ich wollte schon antworten: Sie ist bei mir!
Aber eine solche Antwort musste Svea jetzt verletzen. Statt dessen erzählte
ich von meinem Plan, Tarquinia zu besuchen, sprang aus dem Bett und zeigte
ihr das Bild. Svea lobte es oberflächlich und wurde ganz still.
Am nächsten Morgen war klar, daß sie mit nach Tarquinia fahren
würde. Sie bestand jedoch darauf, zuvor noch den landeinwärts
gelegenen Teil der Maremma zu sehen, eine vom Fluß Ombrone durchzogene
Ebene, in dessen Mittelpunkt Grosseto liegt. Meine Reisepläne wurden
dadurch verzögert, aber ich war froh, wieder einen Menschen bei mir
zu haben, und stimmte zu.
War
Svea die Geschichte dieses Landstrichs bekannt? Jetzt fruchtbar und grün,
einst aber Maremma amara: die bittere. Oder hat sie von der früheren
Beschaffenheit des Landes nur etwas geahnt? Von den Sumpfgebieten in den
Niederungen, wo die Luft im Sommer fiebergetränkt war, bis in der
ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts damit begonnen wurde, Flüsse
umzuleiten, Sümpfe trockenzulegen und aufzufüllen.
Doch
die mala aria, die schlechte Luft, blieb. Und die Tagelöhner,
die, wie seit
Jahrhunderten, im Sommer von den umliegenden Bergen herabkamen, atmeten
diese Luft auch weiterhin ein. Dort oben wehte zwar ein frischer Wind,
aber es gab keine Arbeit. So verdingten sie sich bei den Padroni, um die
Schafherden zu hüten oder im Winter Oliven zu pflücken. Ausgerechnet
mit dem Faschismus begann es besser zu werden. Straßen wurden gebaut
und Menschen in das kaum besiedelte Land geschickt. Nach dem Krieg kamen
die Amerikaner. Und mit ihnen das DDT.
Nein, Svea wusste nicht mehr als das, was sie sah. Und doch glaube ich,
dass sie die schlechte Luft aufspürte. Man hatte sie nur von der
Oberfläche des Marschlandes vertrieben, wo nun weiße Rinder
und schwarze Stiere gezüchtet wurden und Pferde, die fast wild waren.
Jedenfalls erkrankte Svea binnen weniger Tage. Ein glutheißes Fieber
schien sie verbrennen zu wollen. Es stieg rasch auf lebensbedrohende Höhe,
und ich brachte sie in ein Krankenhaus. Erst nach vier Tagen, als die
Ärzte sicher waren, dass Svea keine ansteckende Krankheit hatte,
ließ man mich wieder zu ihr. Auch ich blieb in dieser Zeit unter
Beobachtung.
Ich
ahnte die Zusammenhänge und hätte den Ärzten sagen können,
dass das Fieber nicht ansteckend war: Svea hatte die schlechte Luft in
sich gebannt. Doch ich stand schweigend vor ihrem Bett und weigerte mich,
die Geste anzunehmen. Zeitweise
brauste kalter Zorn in mir auf, in eine solche Lage gebracht worden zu
sein. Aber wenn ich dann Svea vor mir sah, wie sie sich dem Fieber schutzlos
auslieferte, unterdrückte ich jeden Vorwurf. Ich wollte sie nicht
verlieren, hatte zugleich aber auch Angst, die Zigeunerin, diesen fernen,
seltsamen Spiegel, zu verlieren, wenn ich Svea helfen würde. Während
ich noch überlegte, verfiel sie in Windeseile.
Die
Ärzte hielten es für die extreme Form eines seltenen Fiebers,
das normalerweise nur Kinder befällt. Ein anderes Mal sprachen sie
von einem ungewöhnlichen psychosomatischen Ausbruch. Schließlich
kam einer der behandelnden Ärzte zu mir und gestand ein, Svea nicht
helfen zu können. Ich nahm es wortlos hin. Er hatte erwartet, dass
ich in Tränen ausbrechen würde, und bezeugte mir nun einigermaßen
erleichtert seinen Respekt für meine Tapferkeit.
Dabei
schwieg ich, weil die Zigeunerin mir nah war wie nie zuvor. Die Intensität
ihrer Erscheinung schien in dem Maß zu wachsen, wie Sveas Leben
zu Ende ging. Jeden Tag verbrachte ich viele Stunden an ihrem Bett, hielt
die schmal gewordenen Hände und beobachtete bedrückt die hetzenden
Atemzüge. Ab und zu tupfte ich den Schweiß von ihrem Gesicht
und gab ihr zu trinken.
Doch
vermied ich es, ihr dabei in die Augen zu schauen, die seltsam klar blieben
in den Tagen und Wochen der Krankheit, als wären sie ein Spiegel
ihres Geistes oder ihrer Seele, während der übrige Körper
sich aufzulösen schien in gläsernes Nichts. Die von der Sonne
gebräunte Haut wurde schimmernd durchsichtig, so als verlange der
darunterliegende Körper keinen Schutz mehr. Die empfindlichen Mundwinkel
waren eingerissen, die Lippen von Fieberbläschen übersät.
Das Haar hatte eine unansehnliche, stumpfe Farbe angenommen und war brüchig
geworden. Wenn das Fieber besonders heftig anstieg, was alle drei oder
vier Tage geschah, versuchte ich ableitende Waschungen, wie es mir die
Schwestern gezeigt hatten. Mehr konnte ich nicht tun.
Als
Svea sah, dass ich nicht von der Zigeunerin ablassen würde, weil
auch diese nicht von mir ließ, verlor sie für einen Augenblick
die Beherrschung, und das Fieber stieg auf schreckliche Höhe. Weil
aber die Krankheit nicht Ausdruck ihres gesunkenen Lebensmutes war, sondern,
wie ich heute glaube, eine bis an die Grenzen der Selbstkontrolle gehende
Liebeserklärung, überwand sie, was sie als Scheitern ansah,
mit ungebrochener Widerstandskraft. Rasch sank nun das Fieber.
(...)
aus:
Bekassinen; in: Die Liebe am Nachmittag,
Liebesgeschichten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1996
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